Die blau-gelbe Fahne passt politisch eigentlich nicht zum Image, für das Schweden in Europa bekannt ist: Die Nordgermanen bauten einen komfortablen Wohlfahrtsstaat auf, von dem ein Volvo-Fahrer wie Erich Honecker nur träumen konnte. Dafür nehmen die Knäckebrot-Erfinder hohe Steuern in Kauf und haben trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb, folgt man dem Economist-Index von 2008 - das demokratischste Land der Welt. International scheint aber auch jenseits des Kattegats die Devise zu gelten: Die Interessen der eigenen Wirtschaft sind wichtiger als europäische Solidarität. Dies bekamen lettische Politiker zu spüren, die der schwedische Finanzminister Anders Borg schulmeisterte. Wikileaks-Veröffentlichungen aus der Korrespondenz us-amerikanischer Diplomaten beschreiben sein rabiates Verhalten. Auch der investigative Journalist Lato Lapsa hat diese Texte jetzt auf seiner Webseite pietiek.lv (zu Deutsch: “es reicht.lv”) ins Netz gestellt. Die Schweden beteiligen sich mit 863,9 Millonen Euro am 7,5-Milliardenkredit der EU und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Den benötigt Lettland seit dem Herbst 2008, um zahlungsfähig zu bleiben, also seit jener Zeit, als die Crashbanker die Steuerzahler weltweit zur Kasse baten. Die Untertanen Carls des 16. Gustaf zahlten aber vor allem im eigenen Interesse. Ihre Stockholmer Swedbank hatte sich auf dem lettischen Kreditmarkt verspekuliert. Der musste stabil bleiben, denn es bestand die Gefahr, dass die Swedbank wieder einmal, wie in den neunziger Jahren, zum teuren Finanzloch der Wikinger verkommt. Die Schweden fürchteten kurz nach dem weltweiten Lehman-Spektakel vor allem, dass die Letten ihren Lats abwerten könnten, das hätte für ihre Swedbank wieder mal das Aus bedeutet.
Die Swedbank ist nicht nur in Schweden, sondern auch in Lettland die größte Bank, Foto: UB
Der Streit zwischen Anders Borg und Valdis Dombrovskis
Am 8. September 2009 notierten die US-Diplomaten in Stockholm, was ihnen Borg über Lettland erzählt hatte. Das Schicksal des kleinen Nachbarn auf der anderen Seite der Ostsee stehe 50 zu 50. Entweder erfülle die lettische Regierung mit internationaler politischer Unterstützung die Sparauflagen, die sie mit der EU-Kommission und dem IWF vereinbart habe, oder sie erfülle sie nicht: Im letzteren Fall könne die kleine baltische Republik als failing state enden. Mit diesem englischen Begriff bezeichnet man Ex-Staaten wie Somalia, die keine Regierung mehr haben. Dann könne das gescheiterte Lettland wieder unter die Herrschaft Moskaus geraten. Der Schwede gab sich vor den Amerikanern weltmännisch besorgt: Ein Zusammenbruch der baltischen Staaten sei weniger für Schweden selbst eine Bedrohung als vielmehr für die gesamte Region. Entscheidend für sein Land sei es gewesen, die Letten im Dezember 2008 und im Juni 2009 vor dem Kollaps gerettet zu haben, aber nun seien schwedische Firmen auf dem internationalen Markt wieder kreditwürdig. Es gebe zwar noch Probleme mit der Swedbank, aber die Probleme einer Bank ergäben noch keine Bankenkrise. In einer weiteren Depesche vom 8. Oktober des Jahres beschrieben die Diplomaten den bezopften Konservativen Borg weniger gentlemanlike. Der neue lettische Premier Valdis Dombrovskis hatte angekündigt, die Sparauflagen der internationalen Kreditgeber nicht restlos erfüllen zu wollen. Borg drohte danach offen, den zweiten Teil der Kreditsumme nicht zu überweisen. So könne man sich einfach nicht verhalten. Dombrovskis reagierte auf solche Belehrungen entsprechend verärgert: Er nannte Borgs Stellungnahmen “nicht hilfreich”: “Ich habe keine glaubwürdige ökonomische Analyse hinter Borgs Kritik vernommen”. Und unter dem Hinweis, das Lettland die vereinbarten Sparziele erreichen werde, fügte er hinzu: “Ich habe mit dem IWF und der EU-Kommission verhandelt und die haben nicht annähernd dieses Maß an Aggressivität demonstriert wie Borg,” so in etwa wird der lettische Regierungschef in englischer Sprache zitiert.
Hinter der Swedbank-Filiale in der Nähe des lettischen Freiheitsdenkmals wehen so manche EU-Krisenzeichen. Sie schmücken das Hotel de Rome, das die Stadt Riga gerade an private Investoren verkauft, Foto: UB
Schwedische Bürgerliche contra lettische Neokonservative
Im Spätsommer 09 zeigte sich Borg als Lettenversteher: Er sah, was die rücksichtslose Sparpolitik jenseits der Ostsee angerichtet hatte. Schulen und Krankenhäuser waren geschlossen worden, die Arbeitnehmer mussten reduzierte Gehälter hinnehmen, die Zahl der Erwerbslosen erreichte Rekordniveau. Er lastete diesen Niedergang der “politischen Philosophie” der “neokonservativen” lettischen Regierung an. Diese habe den schmerzvollen Kurs der “internationalen Abwertung” gewählt, statt die eigene Währung anzupassen. (Lato Lapsa vermerkt an dieser Stelle, dass es sich beim Begriff “internationale Abwertung” wahrscheinlich um einen Irrtum des notierenden Diplomaten handelt, vermutlich meinte er “innere Abwertung”. Das bedeutet: Lettland vermeidet es, die eigene Währung gegenüber dem Euro abzuwerten. Eine solche Schwächung des Lats gegenüber dem Euro hätte die Importe verteuert, die eigenen Exporte aber verbilligt. Die Rezession wäre – folgt man den Abwertungsbefürwortern – gestoppt worden und die Regierung hätte weniger sparen müssen. Dagegen bedeutet die “innere Abwertung” massive Haushaltskürzung, schrumpfende Einkommen, sinkende Preise, also Deflation. Dadurch werden die überhöhten Preise reduziert, bis sie wieder international konkurrenzfähig sind, der Wechselkurs der Währung bleibt in diesem Fall unverändert). Weiter kritisierte Borg das Bestreben Dombrovskis`, die gesamte wirtschaftliche Anpassung durch massive Streichungen zu erzielen, anstatt endlich die Steuern zu erhöhen. In der Mail vom 29. Oktober 09 informierte die Stockholmer US-Botschaft ihre Washingtoner Zentrale über Borgs Befürchtungen. Gerade die ärmsten Letten seien von der Sparpolitik betroffen. Angesichts kritischer Äußerungen der Mitte-Links-Opposition im schwedischen Reichstag stelle sich für seine Regierung die Frage, ob sie eine finanzielle Unterstützung noch befürworten könne, die die lettische Unterschicht nicht vor weiterer Verelendung bewahre.
Der schwedische Finanzminister Anders Borg. Die Journalistin Birgitta Forsberg gibt ihm eine erhebliche Mitverantwortung für die lettische Krise, Foto: Ojan auf Wikimedia Commons
Nothing special
Borg äußerte sein Mitgefühl mit der lettischen Unterschicht zu einer Zeit, als die schwedische Wirtschaft das Lehman-Chaos überstanden hatte. Der studierte Ökonom hätte aber die Folgen dieses Sparkahlschlags schon Ende 2008 vorhersehen können. Doch während des weltweiten Finanzspektakels hatten die Schweden gar kein Interesse an einem schwächeren Lats. Das Handesblatt nannte am 4.3.09 die Gesamtsumme von etwa 60 Milliarden Euro, die in den baltischen Ländern auf dem Spiel stand. Kredite in dieser Höhe hatten die Swedbank, die SEB und die ebenso schwedische Nordea ihren estnischen, litauischen und eben lettischen Kunden angedreht. Gerade die Swedbank streute noch kurz vor dem Lehman-Crash unbekümmert Geld unters Volk. Der IWF hatte aber schon 2005 vor der sich mächtig aufblähenden Immobilienblase gewarnt. Ob die Häuslebauer sich Hypotheken überhaupt leisten konnten, überprüften die Swedbanker nicht. Die Banken-Aufsichtsbehörden in Schweden und Lettland taten nichts, um das Desaster zu verhindern. Lato Lapsa beschreibt in seinem Buch Parex krahs, dass man bewusst von “Beaufsichtigung” reden müsse, und das bedeutete offensichtlich weder Regulieren noch Regieren, sondern eher, sich mit offenen Augen eine Mütze voll Schlaf zu gönnen. Noch Wochen nach der Lehman-Pleite schläferte der stellvertretende Vorsitzende der staatlichen Finanz- und Kapitalmarkt-Aufsicht (Finanšu un kapit?la tirgus komisija), J?nis Brazovskis, im lettischen Fernsehen die Öffentlichkeit ein: Das lettische Bankensystem sei so simpel wie Haushaltsseife und meinte damit: Die in Lettland tätigen Kreditinstitute seien am internationalen Wertpapiergeschiebe nicht beteiligt – wenig später musste die lettische Parex-Bank vom Staat und dieser wiederum vom IWF zahlungsfähig gehalten werden. Der lettische Finanzminister Atis Slakteris beantwortete in jenen Monaten eine englische Frage, was mit der lettischen Wirtschaft los sei, mit den legendär gewordenen Worten “Nothing special”.
In den sogenannten "fetten Jahren" genehmigte sich die Swedbank eine repräsentative Zentrale am Ufer der Daugava, Foto: UB
Was hinter den schwedischen Krokodilstränen steckt
Die schwedische Zentrale der Swedbank war im Herbst 2008 wieder mal schwer angeschlagen. Sie benötigte dringend eine Kapitalerhöhung. Obwohl der schwedische Fiskus Garantien für ihre Anleihen übernahm, musste die größte Bank des Königreichs, bei der fünf von neun Millionen Schweden Kunden sind, höhere Zinsen berappen. Bei einer Pleite hätte der Staat für sie aufkommen müssen. Dafür war damals im schwedischen Haushalt schlicht kein Geld vorhanden. Die Risiken in den baltischen Filialen kamen hinzu. Das Handelsblatt beziffert, dass 80 Prozent der vergebenen Kredite tatsächlich in Euro ausgezahlt worden waren. Das bedeutet: Die lettischen Privatkunden der Swedbank stotterten mit Lats die Euro-Kreditraten ab. Bei einer Abwertung des Lats, die damals die IWF-Vertreter der lettischen Regierung empfahl, hätten die Schuldner über Nacht einen größeren Teil ihres Einkommens für die Rückzahlungen aufwenden müssen, das hätte manche überfordert und die auf der Kippe stehende Swedbank wahrscheinlich ruiniert. Darüber gab die schwedische Journalistin Birgitta Forsberg ihrem lettischen Kollegen Didzis Melbiksis auf politika.lv ein aufschlussreiches Interview. Forsberg hat ein Buch über die Machenschaften der Swedbank geschrieben. Die schwedische Furcht vor einer Abwertung des Lats beschreibt sie so: “dann wird es schwierig, Kredite zu begleichen, wenn diese in einer anderen Währung sind. Andererseits bedeutet innere Abwertung, dass sie ein geringeres Gehalt erhalten, doch die Kreditsumme bleibt auf derselben Höhe. Im Prinzip ist das ein und dasselbe, doch für die Banken war es das damals nicht. Eine Abwertung erfolgt innerhalb eines Tages. Die innere Abwertung geschieht langsamer. Es beansprucht Zeit, bis man Schulen geschlossen, Krankenhäuser liquidiert und die Gehälter gesenkt hat. Und gerade diese Zeit benötigten die Banken, um neue Aktien auszugeben. Auf lange Sicht ist der Effekt gleich, doch kurzfristig hätten die schwedischen Banken [eine Abwertung] möglicherweise nicht überstanden. Das niedrigste Liquiditätsniveau war damals 12 bis 14 Tage. Eine Abwertung in Lettland hätte damals eine Katastrophe ausgelöst. Es ist klar, dass Schweden nicht wollte, dass Lettland abwertet.”
"Wir gegen Armut" - Bislang blieb der Protest der Letten brav und ohnmächtig, Foto: UB
Die Letten sind ja Hunger gewöhnt
Als Melbiksis seine schwedische Kollegin im Interview fragt, ob man im Verhältnis zwischen Schweden und Lettland Anzeichen von Neokolonialismus entdecken könne, meint Forsberg: “Ja, dem kann ich zustimmen. Ich weiß, dass Lettland die freie Wahl hatte – sie selbst wählten die innere Abwertung. Aber sie erhielten eine sehr große Unterstützung Schwedens für diese Position. Die Europäische Kommission und alle übrigen wollen, dass Lettland durchhält, damit kein Domino-Effekt entsteht. Meiner Ansicht nach leiden die ärmsten Einwohner Lettlands am meisten unter dieser Krise. Und das erlaubt uns übrigen, den Auswirkungen dieser Krise zu entkommen. Schwedens Regierung musste keine Banken übernehmen. Schwedens Steuerzahler mussten keinen Banken helfen, unsere Probleme sind dort, auf der anderen Seite der Meeresküste. Das könnt ihr nun selber lösen, ihr seid ja schon Hunger gewöhnt. Auf diesem Niveau ist das [schwedisch-lettische] Verhältnis. Ihr seid so recht gefügig, ihr, Letten, seid so geduldig! Schweden würden das niemals ertragen. So sehe ich das. Ich bin sehr empört über ihre Lage. Doch andererseits – die Letten haben diesen Weg selbst gewählt, und deshalb ist es schwierig, etwas dagegen einzuwenden.”
Stand: 25.12.10
Externe Linkhinweise:
politika.lv: Tai bankai vienk?rši nebija naudas!
pietiek.lv: WikiLeaks: p?rn Zviedrija deva 50%, ka Latviju piemekl?s sabrukums un devalv?cija
handelsblatt.com: Finanzhilfe: Schweden greift Lettland unter die Arme
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