Referendum am 2.8.08: Demnächst Schweizer Verhältnisse in Lettland?
31.07.2008
Als im letzten Herbst die Demonstranten der “Regenschirm-Revolution” vom lettischen Staatspräsidenten Valdis Zatlers forderten, das Parlament zu entlassen, musste dieser vor der versammelten Menge gestehen, dass die Verfassung ihm das nicht erlaube. Seitdem organisiert der lettische Gewerkschaftsbund LBAS, unterstützt von den Oppositionsparteien, eine Kampagne zur Ausweitung der Artikel 78 und 79 der Verfassung (und dies wiederum in Form eines Referendums). Sollte die Kampagne erfolgreich sein, wäre zumindest theoretisch der Weg frei für eine Auflösung des Parlaments per Volksabstimmung.
Die "Regenschirm-Revolution" in Lettland: Volksversammlung auf dem Domplatz zu Riga am 3. November 2007. Aufschrift des Plakats am rechten Bildrand: "Das Volk erwacht, Zatlers schläft". Photo: Ģirts Zēgners.
Schon in ihrer derzeitigen Gestalt weist die lettische Verfassung beachtliche plebiszitäre Elemente auf. Sofern sich nämlich mindestens zehn Prozent der Wahlbevölkerung auf Gesetzentwürfe oder Vorschläge für eine Verfassungsänderung verständigen können, sind sie berechtigt, diese über den Staatspräsidenten in die Saeima, das lettische Parlament, einzubringen (Artikel 78). Lehnen die Abgeordneten die Initiativen inhaltlich ab, sieht die Verfassung eine Volksabstimmung vor. Werden bei dem anschließenden Urnengang bestimmte Quoren erreicht, was die Teilnahme der Wahlberechtigten, bzw. deren Zustimmung zu den Gesetzentwürfen oder Verfassungsänderungen angeht, treten diese dann am Parlament vorbei in Kraft (Artikel 79).
Die LBAS-Initiative will nun dieses Verfahren auf die Saeima selbst übertragen. Die Novellierung der Artikel 78 und 79 soll es der Wählerschaft ermöglichen, letztlich auch über eine Auflösung des Parlaments zu entscheiden. In Zeiten allgemeiner Verdrossenheit über “die da oben” ergab der Aufruf der Gewerkschafter über 217.000 Unterschriften für ein Referendum - nahezu 70.000 mehr als erforderlich -, um am 2. August die lettischen Wähler zu fragen, ob sie einer Verfassungsänderung zustimmen.
Es ist kein Zufall, dass sich Gewerkschafter an die Spitze dieser Bewegung gestellt haben. LBAS-Vorsitzender Peteris Krīgers rechnet damit, dass viele Arbeitnehmer die Gelegenheit nutzen werden, der liberalkonservativen Regierung einen Denkzettel zu verpassen:
“(...) Wir sind so realistisch, dass nicht jeder Wähler sich gründlich mit dieser Novelle auseinandersetzen wird. Für viele Bürger wird es eine Proteststimme gegen das bestehende Chaos im Staat sein, wenn Unternehmen geschlossen, die Pläne, die Gehälter von Medizinern und Lehrern zu erhöhen, nicht verwirklicht, dennoch unverhältnismäßig teure Bauprojekte begonnen werden.”
Der Gewerkschaftschef erkennt aber auch die Bedeutung, die dieses Referendum für die lettische Demokratie haben wird. Er kritisiert, dass die Regierungsparteien ihre Unterstützer vor einer Teilnahme an diesem Urnengang warnen:
“Nach der Logik der Demokratie müssten die Parteien gerade im entgegengesetzten Sinne handeln – auffordern, sich zu beteiligen und die eigene Meinung 'dafür' oder 'dagegen' zu bekunden, um an die staatsbürgerliche Verantwortung des Wählers zu appellieren und das Volk aus der großen Passivität und Gleichgültigkeit gegenüber den Vorgängen im Staat herauszureißen. Die Depression, in welche wie in einen riesigen Abgrund das Volk unter der großen ökonomischen Last gestoßen wird, ist für jene vorteilhaft, welche ihre Dinge zu bewahren wünschen, für jene, denen es sehr gefällt, dass die Bevölkerung sich für nichts interessiert und sich nirgends einmischt. Diesen Teufelskreis können wir nur selbst durchbrechen, kein anderer wird dies an unserer Stelle tun.”
Doch es gibt auch 'logische' Argumente dagegen: Regierungschef Ivars Godmanis weist darauf hin, dass ein Plebiszit gegen die Saeima die Machtbalance stören könne. Dieser Einwand ist trotz des ersichtlichen Motivs, die eigene Macht zu erhalten, nicht bloße Rhetorik: Eine Verfassung, die solche Rechte gewährt, bildet ein Gemisch aus direkter und indirekter Demokratie. In der Schweiz führte dies dazu, dass Regierung und Parlament weitgehend entmachtet wurden. Die Abgeordneten würden wahrscheinlich kaum noch wagen, unpopuläre Gesetze zu beschließen, wenn danach die Auflösung ihrer Kammer droht. Doch für eine solche Entwicklung ist eine engagierte, politisch interessierte Bevölkerung notwendig – und eine solche hat sich bislang kaum artikuliert, die bereits vorhandenen plebiszitären Elemente der lettischen Verfassung sind weitgehend ungenutzt geblieben.
Als ob man es geahnt hätte: Konferenz der Zentralen Wahlkommission Lettlands zum Thema "Volksabstimmungen gestern, heute und morgen" am 4. Oktober 2007 in Riga. Photo: Juris Ķilkuts/cvk.lv
Doch statt die Frage, in welche Richtung sich die lettische Demokratie entwickeln soll, grundsätzlich zu diskutieren, flüchten Politiker der Regierungsparteien sich in fragwürdige Polemik und schüren die lettische Furcht vor erneuter Russifizierung. So erklärte die mitregierende Tautas partija (Volkspartei) noch am 25.7.08 in einer Pressemitteilung:
“Im Falle einer Annahme können wir in eine Situation geraten, dass wir die Macht einem Parlament anvertrauen, das die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft, die Überprüfung der Schulreform (die einen erhöhten Unterrichtsanteil an russischen Schulen beinhaltet, der in lettischer Sprache erteilt werden muss, U.B.) sowie die Etablierung des Russischen als zweite Amtssprache als vorrangig betrachten würde”.
Eine solche Parlamentsmehrheit könnte sich theoretisch nur ergeben, wenn die Oppositionsparteien ihre Gräben überwinden. Über eine Zusammenarbeit der Parteien Jaunais laiks (Neues Zeitalter) und der Partei Saskaņas centrs (Zentrum der Eintracht) wurde bislang allerdings nur vage spekuliert. Letztere gilt als gemäßigte Interessenvertreterin der russischsprachigen Minderheit. Eine solche Koalition, die sich darum kümmern müsste, die Differenzen zwischen den Bevölkerungsgruppen auszugleichen, wäre tatsächlich etwas Neues in der lettischen Politik.
Deutsche, die beim Thema Volksabstimmung von ihren Bedenkenträgern vor “Weimarer Verhältnissen” gewarnt werden, mag überraschen, dass auch lettische Juristen eine solche Änderung befürworten.
Der ehemalige Vorsitzende des Lettischen Verfassungsgerichts, Aivars Endziņš, half den Gewerkschaftern, den Änderungsentwurf auszuarbeiten. Jānis Pleps, Jura-Dozent der Lettischen Universität, verglich europäische Verfassungen und kam zu dem Ergebniss, dass das Recht, in Volksabstimmungen die Auflösung des Parlaments zu beschließen, nur in Liechtenstein und einigen deutschen Bundesländern besteht. Die Frage, ob dies nicht den Staat destabilisiere, beantwortete er gegenüber der Web-Redaktion des politischen Fernseh-Talk-Sendung Kas notiek Latvijā? (Was geschieht in Lettland?) im März gelassen:
“Ich glaube, dass dieses Risiko nicht besteht. Die Verfassung verbietet zwar nicht, dass bereits 15 verschiedene Bürger mit 15 verschiedenen Problemen jeder für sich Unterschriften zur Entlassung des Parlaments sammelt und jeder könnte seine persönlichen Motive dafür haben. Das könnte bedeuten, dass das selbstständige Sammeln von Unterschriften zur Parlamentsauflösung führt. Andererseits ist es weder leicht noch billig, zehntausende Unterschriften zu sammeln, welche für ein solches Referendum erforderlich sind.”
Pleps wies darauf hin, dass die Bevölkerung das bereits bestehende Recht, selbst Gesetzesinitiativen einzubringen, kaum genutzt hat. Statt Chaos im Staat befürchtet der Jurist, dass auch dieses Recht nur auf dem Papier bestehen wird:
“Ich habe den großen Verdacht, dass im Falle, diese Veränderungen träten in Kraft, diese auf dem Papier verblieben. Seien wir ehrlich – für die Opposition ist die Entlassung der Saeima – auch wenn sie darüber redet – derzeit nicht vorteilhaft. Je länger die Legislaturperiode der jetzigen Saeima währt, desto stärker wächst die Unzufriedenheit in der Gesellschaft. Das ist die klare politische Logik.”
Schon in den 1930er Jahren war das Vertrauen in die selbsternannten "Retter des Volkes" in der Saeima zuweilen etwas getrübt... Photo: cvk.lv
Endziņš erinnerte seinerseits gegenüber Kas notiek Latvijā? daran, dass die Idee, auf diesem Weg die Parlamentarier zu entlassen, nicht neu sei. Ein solches Recht hatten die lettischen Abgeordneten in den dreißiger Jahren ihrer Bevölkerung selbst zugestanden und in zweiter Lesung beschlossen – doch auch damals verblieb dieses Recht auf dem Papier, denn kurze Zeit später errichtete Staatspräsident Kārlis Ulmanis eine Diktatur.
-Udo Bongartz-
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