Staatshaushalt gerettet - Patient tot: Letten beschweren sich über Brüssel
01.12.2010
Unterschriften gegen Sparpolitik
Die Gewerkschafter der LVSADA (Latvijas Vesel?bas un soci?l?s apr?pes darbinieku arodbiedr?bu/ Lettlands Gewerkschaft der Beschäftigten in Gesundheits- und Sozialdiensten) sammelten seit Ende Juli Unterschriften unter einem Brief, den sie am 29. September an Herrn Diamandouros schickten. 54.732 Letten hatten ihn zuvor unterschrieben. M?ris P?avi?š, der Vizepräsident des lettischen Ärztebundes, bezeichnete diese Aktion als “letzte Hoffnung”, um auf “Europas Institutionen des Rechtsschutzes, die Europäische Kommission, aber auch auf die verantwortlichen Politiker in Lettland einzuwirken, deren Taten die Zerstörung einer qualitätsvollen und zugänglichen Gesundheitsversorgung zur Folge hatten.” Den EU-Kommissaren dürfte dieser Vorwurf kaum behagen. Sie befürworten den lettischen Streich-Etat. Auch die EU verleiht Lettland zinsgünstige Kredite. Die kleine baltische Republik soll schließlich nicht als schwarzes Finanzloch enden, in dem das schöne europäische Bankergeld (und das ihrer Sparer) verschwindet.
Lettische Gewerkschafter beklagen sich beim EU-Beauftragten in Straßburg über die EU-Kommission in Brüssel, Foto: www.ombudsman.europa.eu
Mehr Sterbefälle in den Krankenhäusern
Die lettische Regierung kürzte die Ausgaben für die Gesundheit ihrer Bevölkerung in den letzten beiden Jahren um zirka 25 Prozent. Im Brief an den EU-Ombudsmann nennen die Gewerkschafter weitere Zahlen und Fakten: Bereits in den sogenannten `fetten Jahren` zeigte sich die öffentliche Medizin ziemlich abgemagert. Die staatlichen Ausgaben betrugen 2006 nur 3,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts – einer der niedrigsten Anteile innerhalb der EU. Die UN-Weltgesundheitsorganisation bemängelte 2009 in ihrem Europäischen Gesundheitsbericht, dass 30 Prozent der Letten nicht das Geld haben, einen Arzt aufzusuchen. Allein im letzten Jahr verloren nochmals über 14 Prozent aller beschäftigten Ärzte und Rettungssanitäter ihre Stelle. Und die Gewerkschafter sehen darin die Erklärung, weshalb sich die Zahl der Sterbefälle in lettischen Krankenhäusern um ein Drittel erhöht habe. Die Beschwerde der medizinischen Berufsstände wird auch von SUSTENTO, einer Dachorganisation von Patienten-Verbänden, unterstützt: Nach ihren Angaben hat sich bei 55 Prozent aller Patienten das gesundheitliche Befinden im letzten Jahr verschlechtert.
SUSTENTO kritisiert auch, dass Patienten sich keine Medikamente leisten können, Foto: UB
Sparen an der Gesundheit widerspricht der EU-Charta
LVSDA-Vorsitzender Valdis Keris, SUSTENTO-Vorsitzende Gunta An?a und Liene Šulce, die oberste lettische Patientenbeauftragte, unterschrieben den Beschwerdebrief gemeinsam. Sie argumentieren, dass dieser Zustand EU-Prinzipien widerspreche. Unter anderem beziehen sie sich auf den 35. Artikel der EU-Grundrechtecharta: “Jede Person hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und Durchführung aller Politiken und Maßnahmen der Union wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt.” Im Gegensatz dazu stehe eine Denkschrift, die die Europäische Kommission am 20.2.09 mit Lettlands Regierung verfasst hat. Unter den Bedingungen der internationalen Kreditvergabe sei eine Verbesserung der medizinischen Versorgung demnach nicht vorgesehen. Die Gewerkschafter beschwerten sich darüber im März 2010 bei EU-Vertretern in Riga. Die medizinische Versorgung sei die Angelegenheit der einzelnen Mitgliedsstaaten, entgegneten diese. Andererseits soll die EU-Kommission darauf achten, ob die Länder ihre Verpflichtungen einhalten. Bereits 2007 habe sie Lettland strikt gemahnt, die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Ähnliches verlautbarte sie noch in diesem Jahr.
Der Besuch beim Zahnarzt ist für erwachsene Letten ein Privatvergnügen. Sie können hier nicht mit staatlichen Zuzahlungen rechnen, Foto: UB
Auch zu knappes Geld wird verschwendet
Auch wenn das Geld knapp ist, bedeutet das nicht, dass es nicht verschwendet wird. Jüngst bemängelte der lettische Rechnungshof die Einkaufspraxis der Klinik für Traumatologie und Orthopädie. Mehr als 800.000 Lats wurden ausgegeben, ohne die gesetzlichen Bestimmungen über öffentliche Einkäufe zu beachten. Doch Klagen der Rechnungsprüfer über leichtsinnig oder eigennützig verprasstes Steuergeld sind keine lettische Besonderheit. Die Mär der Sparideologen, Lettland ächze unter seinen medizinischen Blähungen, können auch EU-Statistiker nicht bewahrheiten. EUROSTAT-Zahlen über die europäische Gesundheitsversorgung dokumentieren keine lettische Überversorgung. Sie entsprachen, was die Ausgaben pro Kopf oder Krankenhaus angeht, schon vor der Krise und den Sparmaßnahmen eher dem kümmerlichen osteuropäischen Durchschnitt und rangieren weit hinter den entsprechenden Zahlen für Deutschland. Die Gewerkschafter können nun einen Teilerfolg verbuchen: Nikiforos Diamandouros bekundete, dass ihre Beschwerde den Kriterien entspricht und er eine Prüfung einleitet. Längst nicht jede Klage wird von seiner Behörde akzeptiert.
Stand: 2.12.10
UB
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Externe Linkhinweise:
lvsada.lv: Protesta akcija 29. septembr?
lvsada.lv: IESNIEGUMS Eiropas ombudam
delfi:lv: Eiropas Ombuds pie?em izskat?šanai s?dz?bu par vesel?bas apr?pi Latvij?
delfi.lv: S?dz?bu Eiropas Ombudam par vesel?bas apr?pi Latvij? parakst?juši 54 000 iedz?vot?ju
delfi.lv: VK nor?da uz Traumatolo?ijas slimn?cas šaub?giem iepirkumiem 800 000 latu apjom?
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