Einige hundert Landwirte aus den baltischen Staaten zeigten am 12.10.11 ihre Unzufriedenheit mit der EU-Agrarpolitik. An diesem Tag stellte EU-Kommissar Dacian Ciolos seine Pläne für den Agrar-Haushalt vor, der für die Jahre von 2014 bis 2020 vom Europäischen Rat und dem EU-Parlament beschlossen werden soll. Die Letten protestierten mit ihren nördlichen und südlichen Nachbarn sowohl in Brüssel als auch vor den EU-Vertretungen in Tallinn, Vilnius und Riga. Die baltischen Bauern erhalten pro Hektar die geringsten Agrarsubventionen. Das verzerrt den Wettbewerb auf dem EU-Binnenmarkt. Während manches deutsche Lebensmittel wohlsubventioniert den Weg in die Regale lettischer Supermärkte findet, müssen lettische Bauern mit wenig EU-Geld auskommen. Lettische Politiker solidarisierten sich mit ihren Forderungen nach gerechterer finanzieller Unterstützung. Staatspräsident Andris B?rzi?š reiste am Protesttag ebenfalls nach Brüssel, um das baltische Anliegen mit dem Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso, zu besprechen. Auch die lettischen EU-Abgeordneten zeigten sich mit den Demonstranten einig. Der Brüsseler Parlamentarier Ivars Godmanis erläuterte gegenüber der Tageszeitung Neatkarigas Rita Avize (NRA) recht stichhaltig die lettische Vorstellung von gerechter Agrarwirtschaft.
Getreideernte, Foto: Hinrich auf Wikimedia Commons
Lettische Bauern mit niedrigsten Summen abgespeist
Als im Juni die Brüsseler Kommissare erste Entwürfe für die kommende Haushaltsperiode vorlegten, war das ein Schock für die Letten. Das Land, dem der Internationale Währungsfonds eine eiserne Sparpolitik auferlegte, ist auf EU-Fonds angewiesen, um die eigenen Unternehmen in der Krise zu unterstützen. Doch nun planen die Brüsseler, den Letten die Mittel aus dem EU-Kohäsionsfonds, mit dem Umwelt- und Verkehrsprojekte finanziert werden, um eine Milliarde Euro zu kürzen. Enttäuscht sind auch die lettischen Landwirte. Seit dem EU-Beitritt im Jahr 2004 müssen sie mit weitaus geringeren Agrarzahlungen zurecht kommen als ihre Kollegen in den alten EU-Staaten. Damals befürchteten wohlhabende Nettozahler wie Deutschland, noch mehr Geld nach Brüssel überweisen zu müssen. Schließlich machen die Ausgaben für die Landwirtschaft 42,3 Prozent des EU-Haushalts aus. Zuviel Solidarität mit den Osteuropäern wollte man sich dann doch nicht leisten und so wurden die Agrarsubventionen für die neuen EU-Mitglieder gedrosselt. Das Ergebnis ist verzerrter Wettbewerb. Zahlen, die die Unterschiede verdeutlichen, kursieren nun im lettischen Blätterwald. Die Tageszeitung Diena veranschaulichte in ihrer Ausgabe vom 10.10.11 die Berechnungen der EU-Statistiker. Im Jahr 2013 wird ein niederländischer Agrarproduzent pro Hektar und Jahr 494 Euro aus EU-Kassen erhalten. Im EU-Durchschnitt sind es 284 Euro. Der lettische Bauer wird pro Jahr und Hektar mit 95 Euro abgespeist. Die EU-Kommissare stellten den baltischen Bauernverbänden eine Angleichung in Aussicht. Doch nun stellt sich heraus, dass diese nur langsam und unzureichend erfolgt. Nach den Kommissionsplänen, die der Rumäne Ciolos am Protesttag vorlegte, werden die Letten Schlusslicht unter den Subventionsempfängern bleiben. Ein niederländischer Agrarproduzent wird im Jahr 2017 immer noch mit 420 Euro bedient werden, während sich ein lettischer Bauer dann mit 144 Euro begnügen soll. Seine estnischen und litauischen Kollegen erhalten nur unwesentlich mehr. Daher appellieren Politiker und Vertreter der baltischen Agrarlobby an die Solidarität zwischen den drei kleinen Ostseeanrainern. Der frühere lettische Regierungschef Ivars Godmanis unterrichtete die NRA-Leser im Detail. Der studierte Physiker macht die lettische Sichtweise mit Logik und zahlreichen Rechenmodellen verständlich.
Diese Tabelle listet die Nettozahler und die Nettoempfänger auf, also jene EU-Länder, die mehr in den EU-Haushalt einzahlen als heraus bekommen gegenüber jenen, die mehr heraus bekommen als einzahlen. Deutschland zahlt in etwa 9 Milliarden drauf - das ist die beliebte deutsche Berechnung, die unterschlägt, dass der EU-Haushalt den Binnenmarkt ermöglicht, von dem deutsche Exporteure profitieren. Laut Eurostat-Statistik exportierte Deutschland allein in der ersten Jahreshälfte von 2011 Waren im Wert von 610 Milliarden Euro. Dem standen Importe von 531 Milliarden Euro gegenüber. Davon war der größte Teil EU-Binnenhandel. Zum Verrgleich Lettland: 5,1 Milliarden Exporte und 6,1 Milliarden Importe. Grafik: Ktrinko auf Wikimedia Commons.
Europäische Solidarität nur an Sonn- und Feiertagen
Im Interview redete Godmanis Klartext und erläuterte, wie die nationalen Interessen der Großstaaten die europäische Solidarität unterhöhlen. Die EU-Kommission habe von mehreren Möglichkeiten jene gewählt, die für Lettland die Ungünstigste sei. „Wir können wieder auf dem letzten Platz verbleiben.“ Die Kommission habe nicht erklärt, warum sie diese Variante gewählt hat. Die Direktzahlungen, die je nach Land den Bauern zugeteilt werden, sind nicht nur von der Größe der genutzten landwirtschaftlichen Fläche abhängig. Auch das Bruttoinlandprodukt pro Einwohner fließt in die Berechnung ein. Aber diesbezüglich ist Lettland nicht auf dem letzten Rang der 27 EU-Staaten. In Rumänien und Bulgarien ist die Wirtschaftsleistung noch geringer. Zwischen den Zahlungen bestehen beträchtliche Unterschiede. In Dänemark bestritten die Landwirte 70 Prozent ihres Einkommens aus EU-Mitteln, in Irland 50 Prozent, in Lettland dagegen nur 20 Prozent. Godmanis wies zudem auf die Größenunterschiede zwischen bäuerlichem Kleinbetrieb und Agrarfabrik hin: „Wesentlich ist auch, wie sich die Direktzahlungen in Europa aufteilen. Gemäß den Daten von 2009 erhielten 80 Prozent der Landwirte 5000 Euro pro Jahr oder weniger (und benötigten nur 20 Prozent des entsprechenden Etats). Andererseits erhielten 0,5 Prozent der Empfänger mehr als 100.000 Euro und beanspruchten damit mehr als 16 Prozent der Gesamtsumme. Das zeugt auch von den riesigen Unterschieden.“
Ein Rapsfeld. Lettland produziert nur drei Prozent des eigenen Rapsölbedarfs selbst, Foto: Clemensfranz auf Wikimedia Commons
Politischer Opportunismus statt ökonomische Vernunft
Die EU-Kommission hatte sich vorgenommen, die Agrarsubventionen insgesamt zu reduzieren und stärker an Umweltschutzmaßnahmen zu binden. Aber die Unterschiede in den Direktzahlungen werden kaum verringert. Godmanis nennt mehrere Rechenmodelle, wie diese Zahlungen gerechter erfolgen könnten. Zum Beispiel könne jeder EU-Bauer den selben Betrag pro Hektar erhalten. Doch diese und andere Anpassungsmodelle seien für westliche Großstaaten wie Italien, Deutschland und Frankreich ungünstiger. „Ich folgere daraus nur eines. Die EU-Kommission ist von folgendem Prinzip geleitet: Frankreich, Italien und Deutschland sind einverstanden, die eigenen Direktzahlungen unter einer Bedingung zu verringern – die Gewinner müssen Großstaaten sein. Rumänien, Polen, Spanien. Die haben eine ganz andere Abgeordnetenzahl, einen ganz anderen politischen Druck auf die EU als die kleinen. Mit Ökonomie haben diese Vorschläge nichts zu tun.“ Auf die Frage, wie die Letten nun reagieren könnten, antwortet Godmanis: „Ich denke, dass Politiker allein, nur mit den Leuten des Landwirtschaftsministeriums, mit den Briefen der EU-Abgeordneten und Gesprächen, nicht genügend bewirken. Wir sehen, dass jene politische Variante ausgewählt wurde, mit der die großen Geberländer bestrebt sind, ihre Verluste in der Art zu minimieren, dass andere große Länder als Empfänger davon profitieren. Aber nicht die kleinen wie wir. Jene solidarischere Variante wurde nicht ausgewählt, welche ökonomisch begründet gewesen wäre.“ Der Lette fordert Proteste auch von gesellschaftlichen Organisationen und den Bauernverbänden. „Unter den Protestformen sehe ich auch (zumindest auf Zeit) die demonstrative Verteidigung unserer Märkte gegen die Agrarimporte aus Staaten, die auf unfaire Weise planen, ihre Direktzahlungen zu erhöhen...“
EU-Regionen und ihr Förderungsanspruch, der auch den unterschiedlich verteilten Wohlstand veranschaulicht. Blaue Regionen werden finanziell weniger unterstützt, rote dagegen mehr, Foto: San Jose auf Wikimedia Commons
„Ach, das wollt ihr nicht?!“
Godmanis beschäftigt sich auch mit dem Argument aus den Nettozahler-Staaten wie Deutschland: „Warum müssen wir für die zahlen? Zum Beispiel, weshalb muss Holland für Lettland zahlen? Unser wichtigstes Gegenargument ist – wir haben euch die eigenen Märkte geöffnet. Alle Märkte – den Kapitalmarkt, den Handelsmarkt und auch den Arbeitsmarkt. Das bedeutet, dass Staaten, die wirtschaftlich weiter entwickelt sind, diese Märkte nutzen und dafür benutzen, um mehr materiellen Wohlstand zu erzielen. Für sich. Aber, damit auch wir unsere Wettbewerbsfähigkeit verbessern können, benötigen auch wir von dieser Marktöffnung einen eigenen Nutzen. Ach, das wollt ihr nicht?! Dann muss man darüber nachdenken, ob wir einverstanden sind, dass ihr unsere Märkte frei nutzt. Gewiss ist das eine scharfe Forderung, doch sonst nimmt man uns nicht zur Kenntnis. Auch unsere Regierung muss diese scharfe und offene Position vertreten.“ Weniger scharf als das Interview mit Haudegen Godmanis verliefen offenbar die Unterredungen zwischen dem lettischen Staatspräsidenten und dem Kommissionsvorsitzenden. Barroso verkündete auf der anschließenden Pressekonferenz die übliche europäische Lobhudelei über die lettische Sparpolitik. Lettland sei ein hervorragendes Beispiel, wie die Krise zu bewältigen sei und jetzt sei es wichtig, den Aufschwung zu fördern. Immerhin nahm er die lettische Position „in vollem Umfang“ zur Kenntnis und sagte Unterstützung zu.
Externe Linkhinweise:
zinas.nra.lv: Ivars Godmanis - Krize rada Eiropa strategiskas un taktiskasplaisas
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