Lettland: Parlamentarier bauen Schuldenbremse in die Verfassung ein
31.05.2012
Am Tag, an dem in Irland die Bevölkerung befragt wurde, ob sie die europäische Sparpolitik und deren Folgen für ihr Land befürworten, stimmten die lettischen Abgeordneten mit Zweidrittelmehrheit für die Schuldenbremse, die 25 EU-Länder im Januar vertraglich vereinbart hatten. Damit hat die Pflicht zum Sparen Verfassungsrang. 67 Delegierte stimmten dafür, neben den Vertretern der Regierungsparteien Vienot?ba (Einigkeit, V), Reformu partija (RP) und Visu Latvijai! (Alles für Lettland, VL) auch die oppositionelle Za?o un Zemnieku savien?ba (Bündnis der Grünen und Bauern, ZZS). Nur die ZZS-Parlamentarierin Iveta Grigule enthielt sich der Stimme. Die Fraktion von Saska?as centrs (Zentrum der Eintracht, SC) votierte geschlossen dagegen. Vor der Abstimmung lieferten sich die Volksvertreter eine engagierte Debatte.
Die Saeima beschloss am 31.5.12 den EU-Fiskalpakt in der lettischen Verfassung festzuschreiben, Foto: Ernests Dinka, Saeima
Gleiches mit Gleichem bestrafen
Der Fiskalpakt, den die Regierungschefs des Europäischen Rats vereinbarten, ist die Konsequenz des Maastricht-Vertrags, der schon Beschränkungen der Neuverschuldung für die Währungsunion vorsah. Doch es zeigte sich, dass seine Missachtung folgenlos blieb. Deutschland ignorierte 2002 als erstes Mitglied der Euro-Zone die Regel, dass die Neuverschuldung des Staates nicht größer als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts sein darf. Aber die Richter des Europäischen Gerichtshofs ließen die Schröder-Regierung gewähren. Ab 2013 sollen EU-Länder bestraft werden, wenn sie sich nicht an die fiskalischen Regeln halten. Nur Tschechien und Großbritannien weigerten sich, dem Pakt beizutreten. Die übrigen Nicht-Euro-Mitglieder, unter ihnen Lettland, nehmen freiwillig teil. Fortan können Regierungen, die weiterhin Schulden machen, `bestraft` werden, das heißt: Sie werden sich ab 2013 noch höhere Schulden einhandeln, weil auch noch Bußgelder für Brüssel hinzukommen. Der Pakt fordert, dass alle nationalen Parlamente die Schuldenbremse in die Verfassung aufnehmen. In Lettland geschah das am 31.5.12. In hitziger Debatte tauschten Befürworter und Gegner des Fiskalpakts in zweiter und letzter Lesung ihre Argumente aus.
Finanzminister Andris Vilks verteidigt die Schuldenbremse, Foto: Saeima
Finanzminister Andris Vilks: Fiskalpakt stärkt EU und Lettland
Für die Regierungskoalition verteidigte Finanzminister Andris Vilks (V) den Beschluss, diesem EU-Pakt beizutreten. Er stärke die Staatengemeinschaft. Er stabilisiere die Handels- und Finanzmärkte und das sei vollständig im Interesse Lettlands. Vilks warnte vor Domino-Effekten: Die Investoren schauten auf den EU-Raum in Gänze. Sie begriffen, dass die Probleme eines Landes jederzeit auf ein anderes übergreifen könnten. Den Gegnern der Sparpolitik, die das Recht auf Neuverschuldung wahren wollen, rief der Minister die letzte hausgemachte Finanzkrise im Jahr 2009 in Erinnerung: „Wir haben gesehen, wie das vor der Krise realisiert wurde.“ Damals konnte Lettland seine Verbindlichkeiten nicht mehr zahlen und benötigte einen Kredit des Internationalen Währungsfonds. Das hatte den schwersten Absturz der lettischen Wirtschaft seit 1991 zur Folge. (Das war allerdings nicht das Ergebnis einer Schuldenpolitik, sondern der staatlichen Übernahme einer Pleitebank, U.B.). Vilks ist nicht der Meinung mancher Oppositioneller, dass Lettland durch die Schuldenbremse Souveränität einbüßt. Sie stärke vielmehr die politische Eigenständigkeit. Denn die Beachtung der Sparkriterien bewahre die kleine Baltenrepublik davor, nochmals den eigenen Staatshaushalt von internationalen Kreditgebern diktiert zu bekommen. „Die Ansicht, dass das Fiskalgesetz Lettland die Souveränität raubt, ist eine Legende, falls mit Souveränität kein Leben in vollständiger Isolation gemeint ist. Internationale Verträge verbinden die Staaten. Lettland ist mit den Regeln der EU verbunden. Daher ist die Souveränität des heutigen Staates nicht absolut.“ Der EU-Vertrag sei eine freiwillige Vereinbarung für bestimmte finanzpolitische Prinzipien. Lettland könne nicht wie die Schweiz oder Norwegen sein, welche nicht der EU angehören. Nach seiner Auffassung darf Lettland nicht bestrebt sein, eine Schweiz zu werden, denn es könnte bei diesem Versuch als Nordkorea enden: „Wir können nicht irgendwo isoliert sein. Wir können nicht wie Albanien vor einigen Dutzend Jahren sein. Wir können nicht wie Nordkorea sein.“ (Können schon, muss man hinzufügen, nur wollen nicht.)
Die Abgeordnete Iveta Grigule befürchtet den Verlust nationaler Souveränität, Foto: Saeima
ZZS-Abgeordnete Iveta Grigule: Früher bestimmte Moskau, nun Brüssel
Grigule beurteilt gerade das Thema Souveränität kontrovers. In einem Beitrag für die Webseite der Wochenzeitschrift Ir begründete sie bereits drei Tage vor der Saeima-Sitzung, warum sie der Schuldenbremse im Gegensatz zu ihren Fraktionskollegen nicht zustimmt. Es sei eine Lüge zu behaupten, Lettland würde von der EU weniger Geld für Landwirte und Infrastruktur erhalten, falls die Parlamentarier den Pakt nicht ratifizierten. Auch den Briten und Tschechen werde nichts gekürzt. Britische Banker verdienten sogar an der Krise in den Euro-Staaten. Französische, italienische und spanische Anleger hätten Geld in Höhe von 200 Milliarden Euro auf die Insel transferiert. Grigule widerspricht Vilks` Argument, eine strenge Fiskalpolitik würde das us-amerikanische Kredit-Rating verbessern: Manche sagten, „wenn wir uns beeilen und dieses Abkommen ratifizieren werden, senden wir den internationalen Finanzmärkten ein Signal und die Rating-Agenturen erhöhen Lettlands Kredit-Rating. Jetzt haben drei oder vier Staaten den Vertrag zur Fiskaldisziplin ratifiziert. Unter ihnen auch Portugal und Griechenland. Hat sich deshalb das Rating dieser Staaten verbessert? Nein. Für Griechenlands Banken wurde es jüngst um drei Punkte vermindert.“ Mit scharfen Worten kommentierte Grigule den Fiskalpakt als Aufgabe lettischer Unabhängigkeit zugunsten der Brüsseler Verwaltung und ereiferte sich polemisch: „Es ist unnötig hinzuzufügen, dass der Vertrag nur von Staaten der Eurozone ratifiziert werden muss, deshalb ist mir jene Eile vonseiten der regierenden Koalition absolut unbegreiflich. Wenn einst unser Leben in Moskau bestimmt wurde, dann geschieht das nun in Brüssel. Ich sehe keine Möglichkeit, `für` das Gesetz zu stimmen, dafür zu stimmen, dass fortan die endgültigen Beschlüsse über unser Staatsbudget und über die weitere Entwicklung Brüssel fasst. Wir sind hier geboren und leben hier, wir selbst müssen die Beschlüsse unseres Staates und unseres Volkes fassen, in unserem Interesse.“
Ivars Zari?š ist der Ansicht, dass der Fiskalpakt die ökonomische Rückständigkeit Lettlands zementiert, Foto: Saeima
SC-Abgeordneter Ivars Zari?š: Deutschland sichert sich seinen Vorsprung
Auch der oppositionelle SC-Abgeordnete Ivars Zari?š begreift die Eile nicht, mit der die Schuldenbremse installiert wird – ohne umfassendere Diskussionen und dem Verständnis über die möglichen Folgen. Er kritisiert, dass der Fiskalpakt über Länder gestülpt werde, die sich in völlig unterschiedlichen Phasen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung befinden. Der gemeinsame Wirtschaftsraum und der Fiskalpakt begünstige die entwickelteren Staaten: „welche schon rechtzeitig ihre Hausaufgaben gemacht haben – Investitionen in Technologie und Infrastruktur, Deutschland beispielsweise.“ Solchen Staaten werde auf diese Art ihr Entwicklungsvorsprung gesichert – vor den übrigen Ländern, „deren Potenzial gering oder erschöpft ist, wie das bei Lettland der Fall ist.“ Solche Länder, die noch Entwicklung benötigen, verglich er mit Kindern, die gezwungen werden, bei wachsenden Füßen stets dieselben Stiefel zu tragen. Das erlaube kein normales Wachstum und führe zur Verkrüppelung. Der Fiskalpakt sei ein verhängnisvoller Fehler, Lettland werde sich langsamer und primitiver entwickeln als die erfolgreicheren Staaten. Dies festige nur die lettische Rückständigkeit. Dazu gehöre auch der Exodus der Arbeitskräfte: „Die Arbeitskraft strömt weiterhin dahin, wo ihr bessere Angebote gemacht werden, wo die passende Aussicht besteht, mehr zu verdienen.“ Ebenso kritisch sieht Zari?š die Auswirkungen auf die Investitionen. Wenn die Regierung die Schuldenbremse betätigt, könne Lettland dem hochproduktiven Kapital kein lockendes Umfeld bieten, „die notwendige Infrastruktur, Menschen, die hochproduktiv sein könnten.“ Stattdessen ziehe der Staat mit solchen Maßnahmen spekulatives und wenig produktives Kapital an. So könne die lettische Wirtschaft keine konkurrenzfähigen Produkte anbieten. „Wir werden zum Absatzmarkt für andere Länder.“ Zunächst müsse Lettland den wirtschaftlich starken Staaten die Arbeitskräfte überlassen, dann auch noch das Volksvermögen durch Privatisierung. Zari?š verlangte erst den Plan der nationalen Wirtschaftsentwicklung vollständig zu erarbeiten, danach könne man über die finanziellen Rahmenbedingungen reden.
Weiterer LP-Artikel zum Thema:
Lettland: Oppositionsabgeordnete kritisieren Merkozys Schuldenbremse
Externe Linkhinweise:
ir.lv: Vai zaud?t savu suverenit?ti?
tvnet.lv: Saeima ratific? ES fisk?l?s discipl?nas l?gumu
Atpakaï