Corona-Bonds: Lettland finanzpolitisch nicht mehr auf deutscher Seite
01.04.2020
Das neoliberale Aushängeschild zeigt erste Risse
Von Nord Stream 2 abgesehen bestand in den Treffen zwischen lettischen und deutschen Regierungsvertretern stets große Eintracht, auch in finanzpolitischer Hinsicht. Lettische Minister unterstützten seit der Finanzkrise die EU-Austeritätspolitik, die den Lettinnen und Letten Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen und eine desolate medizinische Versorgung bescherte, denn es galt, angeblich “systemrelevante” Banken zu retten und sich als Euro-Beitrittskandidat an den Maastricht-Kriterien zu orientieren. Vorrangiges Ziel innerhalb der Euro-Zone sind ausgeglichene Staatshaushalte, deren Sinn von kritischen Ökonomen allerdings bezweifelt wird (makroskop.eu). Bislang konnten sich die Deutschen als Exportüberschussmeister darauf verlassen, dass die lettische Regierung fiskalpolitisch beiseite steht, obwohl das deutlich ärmere Lettland, dessen Handels- und Leistungsbilanzen häufig negativ ausfallen, sich mit derartigen Beschränkungen selbst Schaden zufügt. Jüngst forderten neben dem durch Corona schwerst betroffenen Italien so unterschiedliche Länder wie Spanien, Frankreich, Portugal, Irland, Luxemburg, Slowenien, Belgien und Griechenland, dass die EU-Staaten endlich gemeinsam Staatsanleihen zu einem einheitlichen Zins aufnehmen (wort.lu). Diese Anleihen waren während der Finanzkrise als Euro-Bonds im Gespräch, sie werden jetzt Corona-Bonds genannt. Erwartungsgemäß kam es in Brüssel zum Streit mit den Deutschen und ihren fiskalpolitischen Gesinnungsfreunden aus Österreich, den Niederlanden und Finnland. Doch diese vier reichen Nationen scheinen sich zu isolieren. Erste Stellungnahmen in den lettischen Medien deuten darauf hin, dass die Deutschen diesmal keine Unterstützung aus Lettland zu erwarten haben.
Bettlerin in Rigas Altstadt, die Austeritätspolitik des letzten Jahrzehnts hat viele Existenzen in Lettland ruiniert, Foto: LP
In italienischen Medien ist der Begriff “Spread” häufig in den Schlagzeilen. Der Spread bezeichnet die Zinsdifferenz zwischen deutschen und italienischen Staatsanleihen. Während Deutschland seine Anleihen bereits mit Minuszinsen aufnimmt, als Kreditnehmer sogar verdienen und sich somit der “Schwarzen Null” widmen kann, muss Italien als Krisenland Zins-Zuschläge bezahlen. So vergrößert sich die italienische Krise, denn italienische Firmen können sich nur teurer refinanzieren als ihre deutschen Konkurrenten und geraten noch weiter in Rückstand. Die Zinsunterschiede zwischen den Staatsanleihen führen also zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen, mit denen sich Exportüberschussnationen Vorteile zulasten der stark verschuldeten Euro-Länder verschaffen.
Die deutsche Regierung empfiehlt Italienern und den Vertretern anderer Krisenländer, statt Eurobonds die Milliarden des Europäischen Stabilitätsmechanismus` (ESM) zu nutzen. Doch die Kreditnehmer solcher Fonds haben inzwischen verstanden, dass der Preis zu hoch ist. Denn Kreditvergaben, wie sie der ESM vorsieht, sind mit sogenannten wirtschaftlichen “Strukturanpassungen” verbunden - im Klartext: Fiskalische Kürzungspolitik, meistens zulasten der ärmeren Teile der Bevölkerung. Die Italiener hatten schon 2011 die Folgen solcher Strukturanpassungen zu spüren bekommen. Im Lauf der Finanzkrise forderten die Akteure des Kapitalmarkts von Italien derart hohe Zinszuschläge, dass das Land auf die Hilfe der Europäischen Zentralbank (EZB) angewiesen war. Der damalige Chef der EZB, Jean-Claude Trichet, verlangte für den Schutz vor steigenden Zinsen eine strikte Kürzungspolitik.
Alexis Passadakis erinnerte jüngst an die Folgen (freitag.de). Die italienische Regierung setzte damals die verordnete Austeritätspolitik um, das hatte u.a. Konsequenzen für das Gesundheitswesen: 15 Prozent der italienischen Krankenhäuser wurden geschlossen. Der deutsche Stolz, über mehr Krankenhausbetten zu verfügen als die südlichen Nachbarn, ist allzu wohlfeil. Passadakis beschreibt den Kahlschlag europäischer Daseinsvorsorge als Resultat neoliberaler Ideologie, von dem zwar die deutsche Exportwirtschaft, aber nicht Europa als Ganzes profitiert. “Das Corona-Virus trifft in der EU auf gesellschaftliche Infrastrukturen, die von mindestens einer Dekade scharfer Austeritätspolitik erschöpft sind. In der auf den Finanzcrash von 2007 und 2008 einsetzenden Krise der Eurozone setzten EU-Kommission und EZB alles daran, die Banken und andere Finanzmarktakteure als systemrelevant zu deklarieren und mit hohen Milliardenbeträgen zu retten. Öffentliche Ausgaben für soziale Belange, so hieß es, würden das Wachstum hemmen. Deshalb wurden entsprechend neoliberaler Konzepte die Gesundheitssysteme umgebaut und öffentliche Budgets gekürzt.”
In diesem Zusammenhang stellt Passadakis den deutschen Machthabern ein schlimmes Zeugnis aus: “Der von der Großen Koalition in Berlin mit durchgesetzte Kahlschlag sozialer Infrastruktur in der Eurozone während der letzen Dekade ist ein Faktor, der die Bekämpfung der Corona-Pandemie schwieriger macht und Leben kosten wird. `Austerity kills!` war in Südeuropa der Slogan im Widerstand gegen die Kürzungspolitik der Troika, noch immer ist er an einer Hauswand im Athener Stadtzentrum zu lesen. Derzeit wird mehr als deutlich, was damit gemeint ist.”
Bislang konnten sich deutsche Austeritätsbefürworter stets auf die Zustimmung ihrer lettischen Gesinnungsfreunde verlassen. Lettland war eines der ersten Opfer der Finanzkrise und benötigte 2009 einen Sieben-Milliarden-Kredit, den IWF, EU, Schweden und Dänemark bereitstellten. Das zugeteilte Geld war mit den bekannten, in der LP oftmals beschriebenen Auflagen verbunden, die u.a. den Kahlschlag im lettischen Gesundheitssystem bewirkten (LP: hier). Die Regierungspropaganda behauptete damals die angebliche Alternativlosigkeit dieses Vorgehens. Den Letten wurde eingeredet, auf ihre Duldsamkeit und Einsichtsfähigkeit, die wirtschaftliche und soziale Knebelung ihres Landes zu ertragen, stolz sein zu können.
Michael Hudson beschreibt, dass die drastischen Lohnkürzungen, die als “innere Abwertung” bekannt wurden, viele Letten aus dem Land trieben. Dennoch galt Lettland als Modell für die Wirtschaftspolitik, die einige Jahre später dann auch Südeuropa auferlegt wurde: “Statt die traumatischste Form der `inneren Abwertung`, die Europa bis dahin gesehen hat, für das Phänomen dieser neuen Exilanten verantwortlich zu machen, freuen sich viele Letten über den Applaus von Neoliberalen, die die Entwicklung ihres Landes als Erfolgsgeschichte feiern. Man hat Lettland zum Aushängeschild für jene Art von Politik gemacht, die Griechenland, Spanien und Italien auferlegt wurde.”1
Lettische Regierungen hatten fortan kein Interesse daran, die südlichen Euro-Länder, die auf Rettungsfonds und EZB-Geld angewiesen waren, ohne wirtschaftliche und soziale Kahlschläge davonkommen zu lassen. Sie hätten vor der eigenen Wählerschaft nicht rechtfertigen können, in Rettungsfonds einzuzahlen, wenn in Ländern mit höherem Lebensstandard die verordnete neoliberale Medizin weniger bitter ausgefallen wäre als im eigenen Land. Der damalige lettische Finanzminister Andris Vilks tat sich damals mit “Mahnungen” hervor, die Austeritätspolitik in der EU strikt einzuhalten (welt.de). Im Interesse Deutschlands zeigten sich die armen Osteuropäer und die verschuldeten Südeuropäer gespalten.
Othmar Karas, ÖVP-Politiker und EU-Abgeordneter, nannte einen wichtigen Grund, weshalb die Südeuropäer auf Austeritätspolitik verpflichtet wurden: Die Regierungen jener osteuropäischen Länder, deren Bürger über vergleichsweise geringe Einkommen verfügten, wollten es so. Karas sagte während einer Podiumsdiskussion im Haus der EU in Wien am 24. November 2017 Folgendes: “Wenn wir einen Europäischen Währungsfonds gehabt hätten, dann hätten wir das Geld der Mitgliedsstaaten für die Unterstützung von Mitgliedsländern nicht gebraucht, wo die einstimmige Entscheidung unter den Euro-Finanzministern zu Maßnahmen geführt hat, die für die Länder nicht optimal waren. Die Reduzierung der Löhne war ein Beschluss der Euro-Finanzminister, - und zwar primär nicht nur von Deutschland, sondern vor allem von jenen Staaten innerhalb der Euro-Zone, wo die Menschen in ihrem Land weniger verdient haben als die Griechen und die haben verlangt, dass sie nur dann ein Geld dafür hergeben und die Einstimmigkeit gewährleisten, wenn man denen dort was wegnimmt. Das ist ein Teil der Entscheidung, ich habe das mit dem Juncker auch besprochen: Das war genauso so: Die Einstimmigkeit wurden genau durch diese Maßnahmen erpresst.” (youtube.com, aufgesucht: 1.4.20, Ton transskribiert: UB)
Doch inzwischen dreht sich der Wind, auch die lettische Regierung benötigt nun viele Milliarden, um die Corona-Krise zu bewältigen und muss voraussichtlich Anleihen zu weniger günstigen Konditionen aufnehmen, als sie Deutschland gewährt werden. Corona-Bonds hätten auch für osteuropäische Euro-Länder Vorteile, diesmal könnte sich das arme Osteuropa nicht mit dem reichen Norden, sondern mit dem verschuldeten Süden verbünden. Noch hat sich das lettische Ministerkabinett nicht öffentlich positioniert (lsm.lv), doch erste Äußerungen deuten darauf hin, dass Lettland für eine solidarische EU-Finanzierung aufgeschlossen ist. Aleksis Jarockis, Vertreter des lettischen Finanzministeriums, sagte im Interview mit Latvijas Avize am 27. März, dass die lettische Regierung von der EZB-Chefin Christine Lagarde aufgefordert worden sei, ihre Auffassung zu Corona-Bonds, bzw. Corona-Obligationen kundzutun. “Falls solche Obligationen ein Mittel sind, um günstige Finanzressourcen zu gewährleisten, dann sind sie zu unterstützen,” meinte Jarockis (la.lv).
Auch Roberts Zile, ein gemäßigter EU-Abgeordneter der Nationalen Allianz, der die deutsche Exportüberschuss-Politik schon lange kritisiert, beobachtet den Spread, von dem Deutschland profitiert und der in Italien die Krise verschärft. Er ist skeptisch, ob die Mitglieder der Eurozone im Namen der Solidarität fähig sind, sich auf Corona-Bonds zu einigen. Er weist auf den enormen Finanzierungsbedarf der EU-Länder, die keine Rücksicht darauf nehmen können, ob in Brüssel jemand mit dem Zeigefinger auf Sparauflagen verweist. “Die Italiener haben gewusst, dass sie sich verschulden und mit 28 Milliarden Euro alle Budgetverpflichtungen brechen werden, was sie unabhängig von dem unternahmen, was in Brüssel gesagt wurde. Sie hatten das Geld einfach nötig.” (la.lv)
Vielleicht verlaufen in Zukunft die Treffen zwischen deutschen und lettischen Regierungsvertretern weniger harmonisch ab.
Quelle:
1Michael Hudson: Der Sektor, Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört, Stuttgart 2016 (Cotta), S. 411
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