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Lettland: Jahresrückblick 2014, Teil I: Januar bis Juni
27.12.2014


Grüner Wuchs im Estrich einer FabrikruineDas Jahr 2014 wird wohl aus lettischer und deutscher Perspektive mit einer Vierminus in die Geschichtsbücher versenkt werden. Noch ist das Leid, ob Ebola, IS-Terror oder Kämpfe in der Ostukraine zu entfernt, um sich allzu sehr über den launigen Charakter von 2014 zu beklagen. Es geht uns doch gut, ist immer noch die öffentlich verbreitete Auffassung. Aber die Stimmung ist vermiest. 2014 demonstrierte, dass die alten Gespenster (Krieg in Europa, Rechtspopulisten auf dem Vormarsch, Eurokrise usw.) längst noch nicht gebannt sind. Die "Uns geht es doch gut"-Parolen nerven jene, die sich, arbeitslos oder prekär beschäftigt, von der Regierungspropaganda verhöhnt fühlen. Solche Ignorierten sind nicht selten für die Demokratie verloren, die Wahlbeteiligungen zeigen es. Würden wir dem Jahr 2015 ein "mangelhaft" erteilen, ließe es sich gar nicht in die Geschichte versetzen und es würde sich im nächsten Jahr wiederholen. Glücklicherweise konnte es sich retten, weil es Riga zur Kulturhauptstadt machte.

Grün ist die Hoffnung, auch im öden Jahr 2014, Foto: LP

Januar

Buchaktion vor der NationalbibliothekDer wellenartige Umriss der neuen Nationalbibliothek glänzt silbrig am Ufer jenseits der Daugava. Am 18. Januar wartet eine Menschenreihe auf der Steinbrücke. Sie verbindet Rigas neues Bücherheim mit der Innenstadt. Diejenigen, die sich bereit erklärten, die ersten Bücher von der alten Stätte zu ihrem neuen Platz weiterzureichen, mussten sich warm anziehen, denn sie hatten einen besonders frostigen Tag erwischt. Die Menschenkette, die von Handschuh zu Handschuh Bücher transportierte, war eine gelungene PR-Aktion. Auch deutsche Tagesschau-Zuschauer erfuhren an diesem Tag, dass Riga Kulturhauptstadt 2014 ist. Seit dem Januar haben die Letten erstmals wie die Deutschen eine Regierungschefin. Laimdota Straujuma wurde am 22.1.2014 von den Saeima-Abgeordneten zur neuen Ministerpräsidentin gewählt. Ihr Vorgänger Valdis Dombrovskis war wegen des Einsturzes eines Supermarktdachs, bei dem 54 Menschen starben, zurückgetreten. Auch in den politischen Ansichten gleichen sich Angela Merkel und Straujuma. Beide verfolgen einen liberalkonservativen Kurs. Ihre Parteien gehören in Straßburg derselben Fraktion an.

An der Nationalbibliothek, Foto: LP

 

Februar

Ausstellung Die Kuratoren der Kunsthalle "Arsen?ls" ahnten wahrscheinlich nicht, dass ihre Ausstellung "1914" solch einen aktuellen Bezug hat. Sie zeigten den Ersten Weltkrieg als Epochenwechsel. Alte religiöse Kunst, Putten, Kruzifixe und Bilder liegen zertrümmert am Boden. Künstler füllen die Leere mit neuen Ideen, neuen Perspektiven auf die Welt. Dieser Aufbruch in die Moderne zog eine enorme Blutspur. Der Erste Weltkrieg wurde leichtsinnig von den Herrschenden riskiert. Ein Jahrhundert später ist Krieg in Europa leider immer noch möglich. Im Internet kann man seit Februar lettische Sagen und Märchen lesen. Die Mitarbeiter der Volkskundlichen Sammelstelle haben eine deutsche Übersetzung der umfassenden Sammlung von P?teris Šmits digitalisiert. Die Texte der Bände 13 bis 15, in denen der Leser vieles über überlieferte lettische Denkart erfährt, sind nun allgemein zugänglich.

Ausstellung "1914", Foto: Kristaps Kalns, lnnm.lv


März

Die Außenpolitik beherrscht die lettischen Schlagzeilen. Die Ereignisse auf der Krim besorgt die Letten. Es erinnert sie an die Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, als die angeblich verfeindeten Großmächte gemeinsam über Osteuropa herfielen, Not und Elend brachten. Der Argwohn trifft die hiesigen Russischstämmigen, die manchmal schon in zweiter oder dritter Generation hier leben. Der Ukraine-Konflikt wirkt wie ein Keil, der die politischen Differenzen vertieft. Deutsche Journalisten interessieren sich nun für Lettlands östliche Region Lettgallen. Doch krimartige Zustände sind dort nicht vorzufinden. Bei so manchem ethnischen Streit kann man in Lettland nicht ernsthaft über separatistische Bestrebungen schreiben. Am Tag, an dem die Einwohner der Krim sich in einer umstrittenen Abstimmung für Russland entscheiden, an diesem 16. März begehen lettische SS-Legionäre ihr alljährliches Ritual: Der Gang vom Dom zum Nationaldenkmal in Erinnerung an eine gewonnene Schlacht an der Seite Hitlers gegen die Rote Armee. Dieses Mal nimmt Ein?rs Cilinskis, Minister für Umweltschutz und regionale Entwicklung, am Veteranenspektakel teil. Kabinettsmitgliedern ist die Teilnahme an dieser Veranstaltung verboten. Daher verliert Cilinskis sein Amt.

Lettische Soldaten, Foto: LP

 

April

Lkw auf nasser Fahrbahn in RigaWeiterhin bestimmen die Ereignisse in der Ukraine die lettischen Schlagzeilen und beschäftigen die lettische Politik. Der öffentlich-rechtliche Rundfunkrat verbietet Anfang April für drei Monate die Ausstrahlung des russischen Senders "Rossija RTR". Er sei tendenziös und habe Hass geschürt. Er stelle die Ereignisse in der Ukraine aus russischer Regierungssicht dar. Das belebt die Debatte, in welchem Maß eine offene Gesellschaft abweichende Meinungen ertragen muss. Am Monatsende erhöht die Nato an der russischen Grenze ihr Drohpotenzial. 150 US-Soldaten kommen nach Lettland, um sich mit der hiesigen Armee an Militärübungen zu beteiligen. Dies ist eine Antwort auf baltische Sorgen um die eigene Sicherheit. Lettische Politiker streiten um den richtigen außenpolitischen Kurs. Der Vienot?ba-Politiker Artis Pabriks fordert mehr Härte gegen Russland. Er bedauert die wirtschaftliche Abhängigkeit vieler Länder von russischem Gas und Öl. Das hindere den Westen daran, strikte Sanktionen gegen den Nachbarn zu verhängen. Ganz anderer Meinung ist Aivars Lembergs. Der umstrittene Bürgermeister von Ventspils deutet den ukrainisch-russischen Konflikt als geopolitische Auseinandersetzung, in der sich Lettland nicht einmischen sollte. Ventspils` Ölhafen ist auf gute Geschäftskontakte mit den Russen angewiesen. Lembergs warnt vor den Folgen von Sanktionsbeschlüssen.

Lettland profitiert vom Transitverkehr mit Russland, Foto: LP

 

Mai

Förderturm für Frackinggas in den USABestehen US-Amerikaner auf Sanktionen gegen Russland, um den Europäern Fracking-Gas zu verkaufen? Die Ukraine-Krise lässt so manche unterschiedliche Deutung und Gewichtung zu. Laimdota Straujuma ist von der Möglichkeit überzeugt, sich mit us-amerikanischen Gaslieferungen von Gazprom unabhängiger zu machen. Sie hält solche Exporte für "ein gutes Signal an Russland". Angeliefert werden könnte der fossile Brennstoff im Nachbarland Litauen, das in diesem Jahr sein Schiffsterminal für flüssiges Gas eröffnete. Straujuma hält die Preise, die die US-Anbieter in Aussicht stellten, für konkurrenzfähig. Die Debatten, die Umweltschützer um das Fracking führen, spielen in den lettischen Überlegungen keine Rolle. Auch die Änderung des Immigrationsgesetzes ist wohl vom Streit über russisches Vorgehen diktiert. Demnach müssen nun Nicht-EU-Ausländer, also vor allem Russen, fortan 250.000 statt 142.300 Euro in Lettland investieren, um eine fünfjährige Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Bei der Europawahl erringen die Regierungsparteien den Sieg. Das sozialdemokratische Saska?as Centrs, das mit Putins Partei "Vereintes Russland" zusammenarbeitet, muss Einbußen hinnehmen. Ein überzeugendes Votum für das Polit-Establishment war diese Wahl nicht: Nicht einmal ein Drittel der lettischen Wahlbürger ging zur Urne.

Schiefergasbohrung im US-Staat Wyoming, Foto: Wikimedia Commons


Juni

Freunde Lettlands sind auch dort zu finden, wo man sie kaum erwartet. Der Westfale und gelernte Rheinländer Wolfgang Brock gab der Lettischen Presseschau ein Interview, in Willich-Neersen, ganz im Westen Nordrhein-Westfalens. Eher zufällig, bei einem Frisörbesuch, wurde der Lehrer ein Fan der mittleren Baltenrepublik. Zunächst beteiligte er sich an Hilfslieferungen, um die Not nach der errungenen Unabhängigkeit zu lindern. Danach kümmerte er sich intensiv um deutsch-lettische Kontakte. Dabei half sicherlich sein Unterrichtsfach, das den Letten besonders liegt: Musik. Lettische Chöre kennen nun den Niederrhein und manche Niederrheiner kennen nun Lettland. Brock schwärmte auch mit seinen "Marienkäfern" aus, um die Letten zu besuchen. So heißt der Kinderchor, dessen Dirigent er ist. Wolfgang Brock ist zudem Geschäftsführer des Deutsch-Lettischen Freundeskreises, der in Neersen über stattliche Vereinsräume verfügt. Dort können sich Interessierte treffen und erste Erfahrungen mit deutsch-lettischem Austausch machen. Beiläufig sei erwähnt: Die Ukraine-Krise beherrschte Schlagzeilen und Politik auch im Juni. Die Deutsch-Baltische Auslandshandelskammer ist über die Sanktionspolitik besorgt und warnt vor den Folgen, die auch baltische und deutsche Firmen zu spüren bekommen.

Neersener Lettenfreunde vor dem Zvarte-Felsen in Lettland, Foto: DLFK

 

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