Lettland: Jahresrückblick 2016, Teil 1
29.12.2016
Januar bis Juni
"2015 war ein trübes Jahr, dass sich mit seinem grauen Dezemberhimmel entsprechend verabschiedet. Zwar sind die ganz großen Katastrophen für Lettland, Deutschland und Europa ausgeblieben, doch die Gefahren und Risiken wurden nicht wirklich entschärft. Es scheint so, als würde die ganze Welt um einen neuen Kurs ringen. Die bestehende Wirtschafts(un)ordnung und der Raubbau an den Ressourcen, auch der militärische Kampf um letztere - das alles ist gleichermaßen unbefriedigend und beängstigend." Das, was für 2015 galt, gilt auch für das Jahr 2016...
Das rundum erneuerte Lettische Nationalmuseum der Kunst in Riga wurde im Mai wiedereröffnet, Foto: Anete Straume, MM
Januar
Die Kölner Silvesternacht sorgt auch in Lettland für viele Schlagzeilen. Die Skeptiker offener Grenzen sehen sich bestätigt. Lettische Leser kommentieren polemisch gegen den „Welcomisierungsstaat“ Deutschland. Die Welt erscheint geteilt in ein bedrohtes „Wir“ und ein bedrohliches „Sie“. Mit dem „Sie“ sind Migranten und Flüchtlinge gemeint. In solchen emotional aufgeheizten Diskussionen finden differenziertere Stellungnahmen wenig Beachtung. Dabei ist es ein umfassendes Thema, das von westlichen Militärinterventionen und Rüstungsexporten in den Nahen Osten bis zur Kriminalität arabischer Großfamilien in Berlin-Neukölln reicht. Das Thema ist eigentlich viel zu komplex für voreilige Urteile und Verurteilungen. Einigen könnten sich die Streithähne vielleicht auf das Ziel, dass eine Welt, in der Menschen weder wegen Krieg, politischer Verfolgung noch wegen Hungers und wirtschaftlichen Elends die Heimat verlassen müssten, die bessere wäre. Eine solche erscheint bei der derzeitigen internationalen Politik allerdings utopisch. Doch das, was Zeitgenossen lange als unrealistische Utopie erscheint, kann eines Tages wahr werden. Im Januar gedachten die Letten den Ereignissen vor 25 Jahren, als sie ihre erklärte Unabhängigkeit mit zivilem Widerstand gegen sowjetische OMON-Milizen verteidigten. Ihre „Waffen“ waren landwirtschaftliche Fahrzeuge, Lkw und mit Beton beschwerte Busse, mit denen sie Parlament, Ministerien und das Fernsehzentrum gegen die schweren Panzerfahrzeuge der Sowjetmacht schützten. Bei den OMON-Angriffen im Januar 1991 starben zwischen dem 16. und 20.1.1991 fünf Zivilisten. Diese Gewalt machte Gorbatschows Reformkurs unglaubwürdig, Journalisten aus aller Welt berichteten über das blutige Geschehen in Vilnius und Riga. Militärische Gewalt konnte die Sowjetunion nicht retten, nach dem Putsch gegen Gorbatschow im August 1991 wurde Lettland als souveräner Staat international anerkannt.
Barrikadenbau 1991, Foto: "Riga barricade 1991" by Apdency - Paša darbs. Licensed under CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons
Kölner Silvesternacht ist auch in Lettland Thema
Letten gedenken der Barrikadenzeit vor 25 Jahren
Februar
Lettland möchte braves Mitglied der Nato sein. Deshalb ist es bestrebt, alle seine Verpflichtungen und Wünsche der Bündnispartner zu erfüllen. Die französische Regierung hatte den lettischen Verteidigungsminister Raimonds Bergmanis um militärische Beteiligung am Anti-Terrorkampf gebeten. Francois Hollande ist der Meinung, dass er den Terror in Paris mit Soldaten im Irak, Syrien und Nordafrika bekämpfen könne. Die Frage, ob „War on Terror“ Terror erst verursacht, statt ihn zu verhindern, wird von der lettischen Regierung nicht gestellt. Und so lässt sich Lettland auch diesmal von einem Bündnispartner einspannen und schickt seine Soldaten als Ausbilder in den Irak und nach Mali. Im afrikanischen Land erfüllt Lettland erstmals einen UN-Auftrag. Am 18.2.2016 wählten 60 Saeima-Abgeordneten M?ris Ku?inskis, den Kandidaten der ZZS (Union der Grünen und Bauern), zum neuen Ministerpräsidenten. Die – noch – stärkste Regierungsfraktion Vienot?ba, konnte sich nach dem Rücktritt von Laimdota Straujuma auf keinen eigenen Nachfolger bzw. Nachfolgerin einigen. Straujumas Kabinett wollte forsche Steuerpläne umsetzen, um die Einkommensdifferenzen im Lande zu verringern. Das hatte den Unternehmerverbänden nicht gefallen. Ein neuer Kurs ist mit Ku?inskis nicht zu erwarten. Die alte Dreierkoalition aus ZZS, rechtsliberaler Vienot?ba und Nationaler Allianz regiert weiter. Von den 13 Kabinettsmitgliedern werden nur zwei neu in die Regierung aufgenommen.
Der neue lettische Ministerpräsident M?ris Ku?inskis, Foto: Saeima - 10. Saeimas deput?ts M?ris Ku?inskis, CC BY-SA 2.0
Lettland schickt Soldaten nach Mali und in den Irak
Lettland hat eine neue Regierung
März
Die Handelssanktionen der EU gegen Russland hätten die lettische Wirtschaft negativ beeinflusst, aber nicht dramatisch. Diese Ansicht äußerte im März Andris Strazds, Ökonom der Latvijas Banka, der lettischen Nationalbank. Trotz Umsatzeinbußen mit russischen Handelspartnern nahmen lettische Exporte insgesamt sogar etwas zu. Doch einzelne Branchen traf es hart. Lettische Milchbauern und Fischverarbeiter kämpfen um ihre Existenz, seitdem Russland auf westliche Sanktionen mit Importverboten reagierte. Zudem macht die Rubelschwäche lettische Ware teurer. Außerdem müssen Letten auf erhoffte russische Investitionen verzichten. 2013 plante eine Tochter des russischen Rüstungs- und Maschinenbaukonzerns Uralwagonsawod, in Jelgava eine Waggonfabrik zu errichten. Doch wegen des west-östlichen Konflikts um die Ukraine und den daraus folgenden Sanktionen zogen die Russen die Bauarbeiter aus Jelgava wieder ab. Sie zweifelten, ob in der derzeitigen internationalen Lage genügend Nachfrage nach Waggons bestehe, um Kohle und andere Güter aus Russland in westliche Länder zu transportieren. Für lettische Exporteure erwiesen sich EU-Sanktionen und Handelskrieg als Eigentor: Im Vergleich zum Vorjahr konnten russische Unternehmer 2015 ihre Exporte nach Lettland noch etwas steigern: Von 1.025.293.820 auf 1.048.082.629 Euro. Im selben Zeitraum verringerten sich lettische Exporte nach Russland von 1.105.268.005 auf 829.890.599 Euro. Im März berichten lettische Medien über ein Vorhaben der Regierung. Auch Lettland reiht sich nun in die Riege europäischer Zaunbauer ein: Bauarbeiter errichten an der Grenze zu Russland ein 92 Kilometer langes Hindernis aus Stachel- und Maschendrahtzaun, das bis 2020 fertiggestellt werden soll. Die Abzäunung entspricht den lettischen Vorstellungen, Immigranten und Flüchtlingen zu begegnen: Eine stärkere Verriegelung der EU-Außengrenzen.
Russische Kohlewaggons auf dem Weg nach Ventspils, Foto: LP
Lettische Unternehmen exportieren ein Viertel weniger nach Russland
Lettland baut Zaun an der Grenze zu Russland
April
Die „Panama-Papers“ füllen auch lettische Schlagzeilen. Die mittlere Baltenrepublik ist zwar kein Schlupfloch für ausländische Steuerhinterzieher, laut des Netzwerkes für Steuergerechtigkeit rangiert Lettland nur auf Platz 59 des Schattenfinanzindexes der Länder, in denen Anleger ihr fragwürdig erworbenes Geld in Sicherheit bringen. Ob dies der Wirklichkeit entspricht oder dem Umstand, dass dem Netzwerk über Letttland zu wenige Informationen vorliegen, sei dahingestellt. Auf Rang 1 steht die Schweiz, auf Rang 8 Deutschland, fünf Plätze vor Panama. Doch auch die Vermögenden Lettlands können den Offshore-Verlockungen nicht widerstehen. Journalisten der investigativen Webseite re:baltica enthüllten, dass prominente lettische Unternehmer Scheinfirmen in Panama unterhielten, um Geld vor dem lettischen Fiskus in Sicherheit zu bringen. Skandinavische Banken halfen dabei. Gun?rs ?irsons, Gründer der populären Restaurantkette Lido, hatte sich zuvor in den Medien als solidarischer Unternehmer dargestellt, der sich um Menschen, nicht um sein eigenes Geld kümmere. Doch auch ?irsons erwog in der Krisenzeit, Geld vor den Gläubigern in Offshore-Sicherheit zu bringen. 2010 hatte die Restaurantkette Lido 21 Millionen Dollar an in Panama und den Jungferninseln registrierten Firmen überwiesen. ?irsons räumte ein, dass er falsch beraten worden sei und er dann doch das ehrliche Gespräch mit den Gläubigern gesucht habe. Wie so oft fällt auch im Zusammenhang mit den Panama-Papers der Name des Bürgermeisters von Ventspils, Aivars Lembergs. Doch auch in diesem Fall gelingt es den Journalisten nicht, dem von seinen Kritikern als Oligarchen Gescholtenen eine Beteiligung an Offshore-Firmen nachzuweisen: Panamas Briefkastenfirmen müssen den Behörden nicht mitteilen, in wessen Besitz sie sind. „Wenn du nicht zu jenen gehörst, die zu Immigranten `Welcome!` sagen, wollen wir dich in unserem Training sehen, wir ziehen die Boxhandschuhe an,“ das Thema Flüchtlinge veranlasst zu sonderbaren Aktionen. Die Wehrsporttruppe „T?vijas sargi“ (Hüter des Vaterlandes), verkündet im April, Patrouillengänge in lettischen Städten zu unternehmen. Die Einwohner sollen vor den Fremden geschützt werden. Dabei sind Flüchtlinge und Migranten eine eher seltene Erscheinung. Die rechte Kampftruppe erhält Unterstützung aus dem letttischen Militär und aus der Politik.
Manche Firmen haben in einem Briefkasten Platz, Foto: Rami Tarawneh - Eigenes Werk, CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=716732
Lettland und die Panama-Papers: Offshore-Firmen prominenter Unternehmer enttarnt
Wehrsportgruppe „T?vijas sargi“ unternimmt abendliche Patrouillen in lettischen Städten
Mai
Lettlands zentrales Kunstmuseum an der Valdem?ra Straße 10 hat endlich wieder geöffnet. Bauarbeiter hatten es unter Leitung des litauischen Architekten Vytautas Biekša jahrelang renoviert. Das neobarocke Gebäude erstrahlt nun in heller Farbe. Das älteste Kunstmuseum des Baltikums wurde um eine Kelleretage erweitert. Es hat nun vier Stockwerke. Der Besucher kann jetzt zur Kuppel aufsteigen, um die neu eingerichtete Dachterrasse zu betreten, in der neuen Cafeteria von den Rundgängen pausieren und sich im Souvenirladen Andenken besorgen. Am 4.5.2016, am Tage der lettischen Unabhängigkeitserklärung, wurde Rigas Kunstattraktion mit einem umfangreichen Programm feierlich wiedereröffnet. Die Regierung bemüht sich um ein umstrittenes Thema. Sozialminister J?nis Reirs unterschrieb ein Dokument, das im Kabinett angefeindet wird, die Istanbuler Konvention. Diese internationale Erklärung soll Gewalt gegen Frauen und in Familien vorbeugen. Lettland war eines der letzten europäischen Länder, die dieses Dokument unterzeichneten. Laut Auskunft des Sozialministeriums werden lettische Frauen überdurchschnittlich häufig Opfer männlicher Gewalt. Die nationalkonservativen Koalitionspartner bestreiten dies und wittern neomarxistische Gender-Ideologie.
Eines der bekanntesten Gemälde des Museums: Nach dem Kirchgang von Janis Rozentals von 1894, Foto: Normunds Braslins, MM
Lettisches Nationalmuseum der Kunst wird am 4. Mai feierlich wiedereröffnet
Lettland: Sozialminister J?nis Reirs unterzeichnet Istanbuler Konvention
Juni
„Ich wäre froh, wenn man sie [die Frauen] ordinieren könnte, wenn es nicht so in den Heiligen Schriften geschrieben stände. Und Frauen, die der Heiligen Schrift folgen, drängen nicht in dieses Amt,“ so begründet Liep?jas Diözesanbischof P?vils Br?vers die Entscheidung der Evangelisch-lutherischen Kirche Letttlands, Frauen nicht zum Priesteramt zuzulassen. Seit 1993 wurde in der evangelischen Kirche Lettlands keine Frau mehr Pastorin, damals wurde J?nis Vanags Erzbischof im Rigaer Dom. Seit dem 3.6.2016 ist diese Praxis lettisches Kirchenrecht. Mehr als Dreiviertel aller Geistlichen der Evangelisch-Lutherischen Kirche stimmten an diesem Tag dafür, das Verbot der Frauenordination in die Kirchenverfassung aufzunehmen. Damit isolieren sich die lettischen Lutheraner international, auch Vertreter der deutschen lutheranischen Nordkirche reagierten befremdet. Die Erzkonservativen spalten die Kirche auch im eigenen Land. Liep?jas Kreuzkirchengemeinde des Pastors Martin Urdze trat aufgrund dieses Beschlusses aus Vanags` Kirche aus und wechselte zur liberaleren Evangelisch-Lutherischen Auslandskirche, die inzwischen auch im Heimatland Gemeinden unterhält. Nun muss die Kreuzkirchengemeinde ihre Kirche und das Haus der Diakonie juristisch gegen die Besitzansprüche der Evangelisch-Lutherischen Kirche verteidigen. In der Kunsthalle Arsenals wurde im Juni die bislang größte Ausstellung deutscher Kunst in Lettland gezeigt. Die Besucher konnten zwei Monate lang 77 Bilder bekannter deutscher Nachkriegskünstler betrachten. Die Auswahl reichte von der Fluxus-Kunst der 60er Jahre bis zu Werken der Gegenwart. „Wahlverwandtschaften“ war das Motto der Ausstellung. Kurator Mark Gisbourne appellierte damit an die Besucher, selbst Bezüge und Zusammenhänge zwischen den Exponaten herzustellen.
Norbert Byski: Marschgepäck von 2008 gehörte zu den Exponaten der "Wahlverwandtschaften", Foto: LNMM
Lettische Lutheraner verbieten Frauenordination
Umfangreichste Ausstellung moderner deutscher Kunst in Riga eröffnet
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