Lettland: Ansprache des Staatspräsidenten Raimonds V?jonis zum Nationalfeiertag
19.11.2016
"Staatsgründer versprachen, Ungerechtigkeit nicht zuzulassen"
Inmitten der Kriegswirren gründeten am 18.11.1918 Vertreter der nationalen Bewegung die lettische Republik. Die Staatsgründung vor 98 Jahren ist der wichtigste nationale Gedenktag, die Ansprache des Staatspräsidenten am Nationaldenkmal der politische Höhepunkt dieser Feierlichkeiten. Seit Juli 2015 ist Raimonds V?jonis das lettische Staatsoberhaupt. Er rief in diesem Jahr zur gesellschaftlichen Geschlossenheit auf - nannte dabei auch den wichtigsten Grund, der diesen Zusammenhalt gefährdet: die soziale Ungleichheit.
Raimonds V?jonis hält seine Rede vor dem Nationaldenkmal "Für Vaterland und Freiheit", Foto: Toms Kalni?š, Latvijas Valsts prezidenta kanceleja
Gerechtigkeit als Grundstein des lettischen Staates
V?jonis erinnerte an die schwierige Zeit, in der Lettland gegründet wurde. "Wir wissen, dass es damals nicht leicht war. Der Erste Weltkrieg hatte Lettland zerstört, viele Landsleute hinweggerafft und viele ereilte das Flüchtlingsschicksal. Wir waren auch selbst gespalten - die einen glaubten nicht an ein unabhängiges Lettland, die anderen kümmerten sich zunächst um das persönliche Wohl und das Überleben unter den schwierigen Umständen in dieser Zeit. Dennoch waren unsere Staatsmänner damals imstande, sich auf gemeinsame Arbeit zum Wohle Lettlands zu einigen, entschlossen und einträchtig zu handeln." Die nationale Unabhängigkeitsbewegung war eine soziale. Sie steht für die Befreiung von Fremdherrschaft und die Abschaffung adeliger Privilegien, V?jonis sieht seine Landsleute in dieser Tradition. Das Ziel der Staatsgründer sollen die Bürger in Erinnerung behalten: "Wir dürfen deren Vision für Lettlands Zukunft nicht vergessen - sie ist weiterhin der wichtigste Orientierungspunkt. Im Jahre 1918 wurde Gerechtigkeit als Grundstein des lettischen Staates gelegt. Dass ein Gesetz, ein Recht für alle gilt und dass im Staate Lettlands kein Platz für Unterdrückung und Ungerechtigkeit ist." Nach Auffassung des Präsidenten symbolisiert die lettische Fahne diese Vision. Sie blieb in den Jahren der sowjetischen und deutschen Besatzung Hoffnungsträgerin: "Hier in Lettland, in den langen Jahren der Okkupation, gab es in unserer Mitte Menschen, welche genügend Mut hatten, die rot-weiß-rote Fahne für alle an sichtbaren Orten zu hissen, um nicht zuzulassen, dass in den Herzen die Flammen eines unabhängigen Lettlands ausgelöscht würden. Dank ihrer bekamen auch wir den Mut, die von den Eltern und Großeltern aufbewahrten Fahnen zu hissen, um in der Zeit des Erwachens Gerechtigkeit und Unabhängigkeit zu fordern. Die Flaggen am Ufer der Daugava und auf den Barrikaden gaben uns die Kraft und den Glauben, den eigenen Staat zu erlangen."
Die Mitglieder des Volksrates, die 1918 die Sitzung zur Staatsgründung im (heutigen) Nationaltheater einberiefen, von links: Gustavs Zemgals, Erasts Bite (stehend), Em?ls Skubi?is, Vorsitzender J?nis ?akste, Sta?islavs Kambala, Mar?ers Skujenieks. Foto: SaiteGegen den "zerstörerischen Negativismus"
Nachdem die Letten 1991 ein zweites Mal ihre Unabhängigkeit erkämpften, hätten die Landsleute in den letzten 25 Jahren viele Schwierigkeiten und Unbarmherzigkeiten durchlebt, aber auch so manches erreicht. "Wir wurden Mitgliedstaat der mächtigsten und angesehensten Organisationen der Welt. Heute, mehr als irgendwann in früherer Zeit, können wir uns auf die Unterstützung von Verbündeten verlassen, welche Lettland am Vorabend des Zweiten Weltkriegs so sehr fehlte." Damit ist die Unterstützung der Nato-Mitglieder gemeint. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatten die baltischen Länder keine militärischen Verbündeten. 1940 okkupierte die Rote Armee die baltischen Nachbarländer, 1941 fiel die Deutsche Wehrmacht ein. Trotz der internationalen Kooperation sorgt sich V?jonis um den mentalen Zustand. Die Letten könnten das Vertrauen in die Ideale der Staatsgründer verlieren und damit sogar den Glauben an den lettischen Staat. Viele vergäßen, welche großartigen und patriotischen Menschen nebenan lebten, die selbstlos ehrenvolle Arbeit leisteten. Den "zerstörerischen Negativismus" müsse jeder zunächst einmal für sich selbst bewältigen. Der Patriotismus stehe in der Wahl und Verantwortung jedes einzelnen. Das ist eine Anspielung auf die Skepsis der lettischen Bürger gegenüber Staat und Politikern. Von letzteren fordert der Präsident Begeisterungsfähigkeit. Politiker müssten imstande sein, die bestehenden Probleme zu benennen, die für die Entwicklung des Landes notwendigen Ziele zu erkennen und für sie Verantwortung zu übernehmen. Solche Anführer würden in der Politik, in den Kommunen, in der Wirtschaft und Wissenschaft benötigt.
Raimonds V?jonis und andere Spitzenpolitiker vor der Kranzniederlegung am Nationaldenkmal, Foto: Toms Kalni?š, Latvijas Valsts prezidenta kancelejaSoziale Gerechtigkeit als gemeinsame Verpflichtung
Beim Benennen von Problemen geht V?jonis mit gutem Beispiel voran: "Wir dürfen nicht zulassen, dass das Wohlstandsniveau die lettischen Einwohner übermäßig trennt. Die soziale Ungleichheit ist die Ungerechtigkeit, die Lettlands Staatsgründer am 18. November 1918 nicht zuzulassen versprachen. Diese zu beseitigen ist unsere Verpflichtung. In der EU wird schon seit einiger Zeit von der Gefahr der Bildung eines `Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten` gesprochen. Wir selbst dürfen unsererseits zuhause nicht zuschauen, wie sich ein `Lettland verschiedener Geschwindigkeiten` bildet, wie sich der Spalt zwischen Wohlhabenden und Bedürftigen, zwischen Stadt und Land, weiter verbreitert. Soziale Gleichheit ist eine wichtige Voraussetzung für die Sicherheit unseres Landes. Jedes Haus, jeder heimatliche Hof wird sicherer, wenn alle unsere Menschen die staatliche Fürsorge für das eigene Wohlergehen erfahren werden, durch den Zugang zur medizinischen Versorgung und zu einer soliden Ausbildung, durch die Unterstützung für junge Familien und Rentner." Da hätten lettische Politiker viel zu tun. Nach diesen klaren Worten fällt V?jonis leider in den altbekannten Phrasenmodus zurück, wenn er sich an Lösungsvorschläge versucht: "Die Grundlage für Lettlands Zukunft sind kreative Einstellungen, neue Entdeckungen, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und ein Milieu beherzter Unternehmertätigkeit. Unternehmer müssen sich in Lettland wie zuhause fühlen, um Wohlstand und produktive Arbeit zu schaffen. Zugleich muss der Staat gemeinsam mit den Unternehmern gewährleisten, dass wirtschaftliches Wachstum auch jenen zugute kommt, denen es am schlechtesten ergeht. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe, das ist unsere gemeinsame Verantwortung." Es ist zu bezweifeln, ob sich diese Aufgabe nur mit Appellen und ohne gesetzliche Grundlage erfüllen lässt, ohne Gesetze, die den Unternehmerverbänden nicht gefallen dürften. In den letzten Jahrzehnten haben lettische Politiker diese Aufgabe stark vernachlässigt. Schließlich mahnte V?jonis noch einmal, welche Ideale die lettische Fahne symbolisiert: "Deshalb, rückblickend auf das Erreichte und an die Zukunft denkend, müssen wir die lettische Fahne hochhalten - unsere Fahne der Gerechtigkeit und Tapferkeit. Die Gerechtigkeit ist in das Fundament unseres Staates eingelegt, sie bildet den genetischen Code Lettlands."
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