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Lettisches Bezirksgericht entscheidet erstmals im Sinne gleichgeschlechtlicher Paare
03.06.2022


Saeima-Parlamentarier verzögern notwendige Gesetzesanpassungen

Diese Europakarte zeigt eine weitere Spaltung in Ost und West: In den rot gefärbten Ländern ist eine gleichgeschlechtliche Ehe laut Verfassung untersagt, in den dunkelblauen Ländern ist sie erlaubt; in hellblauen Ländern ist die Registrierung von gleichgeschlechtlichen Partnern möglich. Lettland steht gestreift da, weil homosexuelle Paare zwar laut Verfassung nicht heiraten dürfen, sich auch nicht registrieren lassen können, aber rechtlich inzwischen, wenn sie mit Kindern zusammenleben, Familienstatus haben, Foto: Silje L. Bakke CC BY-SA 3.0, Saite

Die Rechte von LGBT-Minderheiten sind ein Streitthema der lettischen Öffentlichkeit. Erstmals haben nun lettische Richter entschieden, dass ein gleichgeschlechtliches Paar mit seinen Kindern nach lettischer Verfassung eine Familie bilden, denen auch alle gesetzlichen Vergünstigungen einer Familie zustehen. LGBT-Vertreter feiern das Urteil als “historisch”; doch noch ist der nationalkonservative Widerstand nicht überwunden.


Ein lettisches Bezirksverwaltungsgericht (die Medien berichten nicht welches) hat einem gleichgeschlechtlichen Paar mit Kindern, die gemeinsam in einem Haushalt leben, Familienstatus gewährt. Damit stehen ihm alle sozialen und rechtlichen Vergünstigungen einer Familie zu, z.B. Urlaubstage der Partnerin, wenn die Gefährtin ein Kind gebärt. In diesem Fall lebt das Klägerpaar seit 30 Jahren zusammen; die Richter werteten das Verhältnis als innige Beziehung, die auf Respekt und Vertrauen basiere.  


Kaspars Zalitis, Vertreter der Initiative “Dzivesbiedri” (Lebensgefährten) kommentiert das Urteil: “Das ist ein bedeutsames Signal für den Gesetzgeber, dass es in einem Staat notwendig ist, einen juristischen Rahmen für den Rechtsschutz aller Familien zu erlassen. Falls dieser nicht beschlossen wird, fördern die Saeima-Abgeordneten bewusst die unnötige Überlastung des Gerichtswesens, ohne eine langfristige Lösung zu schaffen. Menschen sollten nicht ewig jemandem um Erlaubnis bitten, darunter den Staat, um als Familie zusammen zu sein und das erklären zu müssen.” (lsm.lv) Zalitis wies darauf hin, dass derzeit vor lettischen Gerichten 26 Verhandlungen dieser Art anstehen.


Die Verwaltungsrichter stützen sich auf ein Urteil des Verfassungsgerichts, das im November 2020 festgestellt hatte, dass auch gleichgeschlechtliche Paare, die mit Kindern zusammenleben, der Familienstatus gewährt werden muss. Sanita Osipova, die damals als Vorsitzende des Verfassungsgerichts amtierte, begrüßt im LSM-Interview das Urteil und bedauert, dass es der Gesetzgeber immer noch den Richtern überlässt, die Entscheidungen zu treffen. Lettische Politiker vermeiden es, sich mit dem unpopulären Thema zu beschäftigen. Laut Osipova hat nicht nur die lettische Rechtsprechung, sondern auch der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte und der Luxemburger Gerichtshof der EU Urteile gefällt, die die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare gestärkt haben. In einem Urteil gegen Russland hätten die Straßburger Richter Folgendes festgestellt: “Die Rechte der Minderheit dürfen nicht davon abhängen, ob eine Mehrheit sie akzeptiert. Meiner Ansicht nach ist damit alles gesagt,” meint Osipova, die übrigens über das Lübische Stadtrecht promoviert hat. 


Die rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare ist in der lettischen Öffentlichkeit ein umstrittenes Thema. Das musste Osipova selbst erfahren. Als ihre Amtszeit beim Verfassungsgericht endete, bewarb sie sich als Richterin für den Senat bzw. das Hohe Gericht, das mit dem deutschen Bundesgerichtshof vergleichbar ist. Doch sie erhielt in der Saeima keine Mehrheit. Politische Beobachter gehen davon aus, dass nicht ihre allgemein anerkannte Qualifikation der Grund war, sondern politische Vorbehalte, weil in ihrer Amtszeit die Verfassungsrichter für die Regierung unangenehme Urteile gefällt hatten; besonders dass sie gleichgeschlechtlichen Paaren mit Kindern Familienstatus gewährten, missfiel nationalkonservativen Politikern und Kirchenvertretern (lsm.lv).


Die Verfassungsrichter hatten den Gesetzgeber, die Saeima-Abgeordneten, beauftragt, die Gesetze im Sinne gleichgeschlechtlicher Paare bis zum 1. Juni 2022 anzupassen. Dazu gehört, dass sich solche Lebensgemeinschaften staatlich registrieren lassen können. Doch die Parlamentarier haben die Frist versäumt. Das Gesetz zur Registrierung gleichgeschlechtlicher Paare wurde im Mai in zweiter Lesung verhandelt. Die Regierung ist in dieser Frage gespalten. Die mitregierende Nationale Allianz lehnt Gesetzesnovellen zur Gleichstellung ab, ebenso die oppositionelle Union der Grünen und Bauern. Auch einige fraktionslose Parlamentarier sind gegen entsprechende Änderungen. Aufsehen erregte ein Parlamentarier, der in der Rechtskommission der Saeima zunächst gegen und dann für den Entwurf stimmte. Drei Abgeordnete vermuteten Bestechung und wandten sich an die Antikorruptionsbehörde KNAB; der Betroffene bestreitet den Vorwurf. Die Oppositionsabgeordneten der Partei Saskana nahmen dies zum Anlass, der Abstimmung in dritter Lesung fernzubleiben, weil der Verdacht das Ansehen der Saeima beschädige. Dieses Argument lenkt davon ab, dass die Saskana-Vertreter in dieser Frage selbst gespalten sind (nra.lv).


Am 2. Juni 2022 wurde das notwendige Quorum, 50 von 100 Abgeordneten, die an einer Abstimmung teilnehmen müssen, abermals verfehlt, weil die Fraktionen der Saskana, der Nationalen Allianz, der Union der Grünen und Bauern sowie fraktionslose Abgeordnete der Abstimmung fernblieben (lsm.lv). Jene, die den Gleichstellungsprozess auf diese Art verzögern, werden auf eine Bürgerinitiative zur Verfassungsänderung hoffen.


Im Paragraphen 110 der lettischen Verfassung heißt es: “Der Staat schützt und unterstützt die Ehe – eine Gemeinschaft zwischen Mann und Frau, sowie die Familie und Rechte der Eltern und des Kindes.” Der Zusatz “eine Gemeinschaft zwischen Mann und Frau” hatten Saeima-Abgeordnete 2005 eingefügt, um gleichgeschlechtliche Eheschließungen zu verhindern. Die Verfassungsrichter betrachteten den zweiten Teil des Satzes, der sich auf die Familie bezieht, unabhängig von der Ehe-Definition.  


Ein “Lettischer Männerverein” hat bei der Zentralen Wahlkommission im letzten Jahr einen Antrag zur Änderung des Paragraphen 110 eingereicht (cvk.lv). Dieser soll nach den Vorstellungen der Initiatoren zukünftig so lauten: “Der Staat schützt und unterstützt die Ehe – eine Gemeinschaft zwischen Mann und Frau, sowie die Familie, deren Basis die Frau als Mutter und der Mann als Vater ist. Der Staat schützt die Elternrechte und ihre Freiheit, die Erziehung der Kinder im Einklang mit ihrer philosophischen und religiösen Überzeugung zu gewährleisten.”


Falls es dem Männerverein gelingt, bis zum 29. Juli 2022 dafür 154868 Stimmen zu sammeln, was einem Zehntel der wahlberechtigten Bevölkerung entspricht, muss sich die Saeima damit beschäftigen. Lehnen die Parlamentarier den Antrag ab, kommt es zur Volksabstimmung. Ein Zwischenstand der Unterschriftenaktion ist nicht bekannt; ob die beträchtliche Stimmenzahl erreicht wird, scheint zweifelhaft. Sollte der Verein Erfolg haben, wäre ihm die Unterstützung durch die Parlamentarier der Nationalen Allianz gewiss. Deren Vertreter reichten im Januar einen ähnlichen Antrag ein und arbeiten jetzt daran, mit Änderungsanträgen das Gesetz zur Registrierung gleichgeschlechtlicher Paare zu verzögern.  


Raivis Dzintars, Vorsitzender der Nationalen Allianz, begründete die Haltung seiner Fraktion: “Lettland ist ein demokratischer Staat mit vielfältigen Meinungen und Respekt gegenüber jedem seiner Bürger. Doch zugleich bestehen Werte, die seit Jahrhunderten unserem Volk und dessen Kultur besonders nah und sogar heilig sind. Eine dieser Werte ist auch das Verständnis von Familie, deren Basis Vater und Mutter bilden - Mann und Frau - und ihre Kinder. Bislang schien dieses Verständnis selbstverständlich, doch mit dem Urteil des Verfassungsgerichts wird dies bezweifelt. Um nicht verschiedene Auslegungen des Verfassungsparagraphen 110 fortzuschreiben, muss der Begriff der Familie konkreter in der Verfassung beschrieben und so klar und unmissverständlich wie möglich definiert werden.” (nacionalaapvieniba.lv)


Udo Bongartz


 




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