Lettisches Centrum Münster e.V.

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Lettland: Kirchenführer und Nationalkonservative wollen traditionellen Familienbegriff in der Verfassung festschreiben
14.01.2021


Rechtliche Benachteiligung sexueller Minderheiten als Ausdruck lettischer Identität?

Die Regenbogenflagge der LGBT-Bewegung ist für manche konservative Letten ein rotes Tuch, Foto: Gemeinfrei, Link

“Die lettische Identität im europäischen Kulturraum ist seit alten Zeiten von lettischen und livischen Traditionen, lettischen Lebensweisheiten, lettischer Sprache, universellen menschlichen und christlichen Werten geprägt.” (katolis.lv) Mit diesem Hinweis auf die lettische Eigenart wenden sich 13 lettische Kirchenführer gegen das Urteil der Verfassungsrichter vom 12. November 2020, das einer lesbischen Partnerin das Recht auf Urlaub zubilligt, wenn die Lebensgefährtin ein Kind geboren hat (Die Lettische Presseschau berichtete). Dieses Recht hatte der Gesetzgeber bislang Vätern vorbehalten. Aber die Richter sehen auch Gemeinschaften von homosexuellen Paaren mit Kindern als Familie an, so dass die Parlamentarier nun das Familienrecht umfassend ändern müssen.

 

Lettlands führende Kirchenvertreter wollen sich mit diesem Urteil nicht abfinden, unter ihnen die Erzbischöfe der evangelisch-lutherischen und der römisch-katholischen Kirche Lettlands, Janis Vanags und Zbignevs Stankevics sowie Metropolit Aleksandrs, der die orthodoxe Kirche des Landes anführt. In einem offenen Brief Anfang Januar an verschiedene politische Amtsträger befürworten sie den Gesetzesantrag nationalkonservativer Parlamentarier, den Familienbegriff in der Verfassung auf heterosexuelle Ehen zu beschränken.  

 

In diesem Brief, der an den Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten, die Parlamentspräsidentin, den Justizminister und an einzelne Abgeordnete adressiert ist, halten die Kirchenoberen ihre Forderung für ein Gebot der lettischen Verfassung. Diese schütze Ehe und Familie, die die Grundlage einer geeinten Gesellschaft darstellten. “Viele Jahrhunderte lang gab es in unserer Gesellschaft keine Unklarheit darüber, was eine Familie ist, deshalb wurde in die Verfassung keine klare Definition eingefügt. Die derzeitigen Vorgänge verdeutlichen, dass die Zeit gekommen ist, dies zu tun, genauso notwendig war es zuvor zu definieren, was eine Ehe ist.” Letzteres ist eine Anspielung auf eine populistische Initiative des Gesetzgebers, der vor etwa einem Jahrzehnt das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen in die Verfassung aufnahm.

 

Im Gegensatz zur Verfassung ist der umstrittene Begriff im Zivilrecht traditionell definiert und die Briefschreiber sind davon überzeugt, dass dieses Familienverständnis breite Unterstützung in der Gesellschaft findet, so dass er auf demokratischem Weg nicht geändert werden könne; solche Vorschläge stammten meistens aus dem Ausland. “Dennoch muss man daran erinnern, dass unser Rechtssystem gründlich überprüft, harmonisiert und als hinreichend gut anerkannt wurde, um Lettland - im 21. Jahrhundert! - in EU und NATO aufzunehmen. Die Gesetze der lettischen Republik, darunter das Zivilrecht, wurden mit den entsprechenden EU-Normen harmonisiert. Daher ist es gewiss nicht erforderlich, unser Familienrecht vollständig zu überarbeiten. Niemand kann von uns verlangen, unsere eigene Identität aufzugeben.”

 

Nach Ansicht der Briefschreiber hängt das Kindeswohl von der traditionellen Familie ab: “Niemand kann abstreiten, dass die optimale Umgebung, in der ein Kind die Welt erblickt und aufwächst, die Familie ist, in welcher Vater und Mutter als Mann und Frau in einer stabilen Ehe vereint sind. Die Beteiligung beider Rollen und beider Geschlechter sind wesentlich für eine vollwertige Erziehung und Entwicklung der Kinder.”

 

Doch das Schreiben offener Briefe beherrschen auch die liberalen Widersacher der Kleriker und Nationalkonservativen. Organisationen wie Mozaika, die LGBT-Interessen vertritt, der Jugendclub Maja, der für ein geeintes Europa eintritt, sowie die Jugendverbände des liberalen, mitregierenden Parteienbündnisses Für Entwicklung/Pro! (AP) kritisieren die Initiative scharf: “Dieser Gesetzesantrag ist als offen reaktionär zu werten. Sein Zweck ist nicht, Familien oder Kindern zusätzlichen Schutz zu gewähren, sondern ihn jenen Familien wegzunehmen, welche bislang von der Verfassung geschützt wurden.” (delfi.lv) Dieser Gesetzesantrag sei offenkundig mit dem Unwillen des Gesetzgebers verbunden, dem Urteil der Verfassungsrichter zu folgen. Doch gegen dieses Urteil könne man nicht in Berufung gehen, selbst das Umschreiben der Verfassung hebe den Richterspruch nicht auf. Die Einschränkung des Familienbegriffs in der Verfassung könne zu einer Klage gegen Lettland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führen.  

 

Der Antrag der Nationalen Allianz (NA) verschlechtere das Verhältnis zwischen Lettland und den LGBT-Minderheiten noch mehr, dabei sei es jetzt schon das zweitschlechteste in der EU. Die Existenz diverser Familienformen werde bewusst ignoriert. Die Kritiker werfen der NA Diskriminierung jener Familien vor, die nicht in deren ideologisches Konzept passten: “Statt dessen versucht die NA eine Verfassungsänderung ohne jeglichen positiven Mehrwert durchzusetzen, von der das lettische Volk und dessen Familien überhaupt nichts haben, so traditionell sie auch sein mögen. Traditionelle Familien, ebenso alle übrigen Familien, besonders sozial ungeschützte Familien gleichgeschlechtlicher Paare und Alleinerziehender, benötigen wirkliche, fühlbare Unterstützung und keine populistischen Hassparolen.”

 

Juristen teilen die liberale Kritik. Rechtsanwalt Matiss Skinkis wies im Lettischen Fernsehen LTV darauf hin, dass die Beschränkung der Familienrechte auf heterosexuelle Ehen gegen das Verfassungsprinzip der Menschenwürde verstoße, weswegen auch Familien gleichgeschlechtlicher Paare geschützt werden müssten. Verfassungsrechtler Edgars Pastars hält den nationalkonservativen Familienbegriff nicht mit internationalen Menschenrechten vereinbar. “Wir müssten zunächst einmal, höchstwahrscheinlich, aus der Europäischen Konvention der Menschenrechte und aus der EU austreten, um uns davor zu bewahren, dass irgendeine ausländische Institution uns darauf hinweist.”

 

Theologieprofessoren und Wissenschaftler anderer Fakultäten widersprechen in einem weiteren offenen Brief dem nationalkonservativen Familienverständnis und dessen Begründung mit christlichen Werten: In dieser Debatte würden einige Aspekte selektiv ausgewählt, andere verschwiegen. Die Werte des Christentums seien Liebe, Gerechtigkeit und Mitgefühl, für die Menschen mit unterschiedlicher Überzeugung eintreten können. Diese Prinzipien ließen sich in unterschiedlichen Formen verwirklichen. “Die Bibel ist ein vielstimmiges Dokument, in dem sich die Veränderungen widerspiegeln, welches das Konzept Familie in der Weltgeschichte erfahren hat. Das ist ein stufenweiser Weg von der Polygamie zur Monogamie.” (lsm.lv)

 

Am 14. Januar 2021 brachten die Abgeordneten Raivis Dzintars, Janis Iesalnieks, Ritvars Jansons, Rihards Kols und Ilze Indriksone, die alle Politiker der NA sind, ihren Antrag ins Parlament ein, den Paragraphen 110 der Verfasssung zu ergänzen: Dass die Familie eine “Vereinigung zwischen Mann und Frau ist, eine Familie, die auf Ehe, Blutsverwandtschaft oder Adoption gegründet ist, auf Eltern- und Kinderrechte, einschließlich des Rechts, in einer Familie aufzuwachsen, die auf Mutter (Frau) und Vater (Mann) basiert.” (delfi.lv)


Die NA-Politiker erzielten mit ihrem Antrag einen ersten Erfolg (lsm.lv). Mit 47 zu 25 Abgeordneten beschlossen die Saeima-Abgeordneten, den Änderungsantrag einer juristischen Kommission zur Prüfung vorzulegen. Die mitregierenden Fraktionen Neue Konservative Partei und die rechtspopulistische Wem gehört das Land? votierten ebenso dafür wie die oppositionelle nationalkonservative Union der Grünen und Bauern. Die liberalen Regierungsfraktionen AP und Neue Einigkeit (JV) stimmten dagegen. Die Sozialdemokraten, die sich in der Opposition befinden, nahmen nicht an der Abstimmung teil.


Die Regierung, die aus fünf Fraktionen besteht, zeigt sich also auch in dieser Frage gespalten. Ministerpräsident Krisjanis Karins, der der wirtschaftsliberalen JV angehört, ist der Ansicht, dass gerade nicht die richtige Zeit sei, um über Verfassungsänderungen zu debattieren. Beobachter bewerten das Vorgehen der Nationalkonservativen unterschiedlich. Manche kritisieren, dass die traditionelle Definition der Familie Menschen ausschließe und diskriminiere, welche in abweichenden Beziehungen zusammenleben. Andere weisen darauf hin, dass die lettische Gesellschaft mehrheitlich konservativ sei, wenn mit ihr kein Kompromiss gefunden werde, bleibe die rechtliche Gleichstellung sexueller Minderheiten ein Sieg auf dem Papier.  


Die liberale AP-Fraktion, die in der letzten Woche hinnahm, dass Premier Karins ein Regierungsmitglied aus ihren Reihen, Gesundheitsministerin Ilze Vinkele, entlassen hatte, bat nach der Abstimmung den Regierungschef zu einem Gespräch. Die AP-Fraktion wolle Verfassungsänderungen verhindern, die Menschen diskriminierten. Ihrer Ansicht nach entspricht das Vorgehen der NA-Politiker nicht dem Koalitionsvertrag, der vorsieht, Verfassungsänderungen nur einhellig zu beschließen. Der fragilen Fünferkoalition droht eine weitere Bruchstelle.

 


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