Lettisches Centrum Münster e.V.

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Lettland: Vorsitzender des Automobilverbandes Andris Kulbergs befürchtet neue Emigrationswelle
01.09.2022


Verlust der Kaufkraft wie während der Finanzkrise

Autos in Riga, oft auf Kreditbasis finanziert, Foto: UB

Während lettische Regierungsvertreter wie Wirtschaftsministerin Ilze Indriksone beschwichtigen, dass für die Einwohner genügend Gas gespeichert sei (lsm.lv), befürchten unabhängige Beobachter die nächste Rezession. Sie wäre eine schwere Nebenwirkung der Sanktionspolitik gegen Russland, die die lettische Regierung auf EU-Ebene einfordert und im eigenen Land praktiziert. Autolobbyist Kulbergs beobachtet als Krisenvorbote die zunehmende Zahl gepfändeter Autos, deren Käufer die Kreditraten nicht zurückzahlen können (tvnet.lv). Er erwartet eine Verschärfung der Lage, wenn lettische Verbraucher im kommenden Winter unbezahlbare Energierechnungen im Briefkasten vorfinden. Kulbergs warnt die Regierung davor, säumige Kreditkunden wie in der Zeit der Finanzkrise im Stich zu lassen.


Noch verkünden Medien rosige Zahlen aus der jüngsten Vergangenheit. Im letzten Jahr nahm die Menge der gekauften Neuwagen um 7,9 Prozent im Vergleich zum entsprechenden Zeitraum des Vorjahres zu (lsm.lv). In der konventionell rechnenden Volkswirtschaft ist das Bruttoinlandprodukt immer noch das Maß aller Dinge. Im ersten Quartal dieses Jahres wuchs die lettische Wirtschaft noch um 7,6 Prozent im Vergleich zum ersten Quartal 2021 (ec.europa.eu). Doch die Krisenzeichen mehren sich; Kulbergs meint, dass der Abschwung schon begonnen hat. Er beobachtet, dass die Zahl gepfändeter Autos zunimmt, deren Käufer die Kreditraten nicht mehr bezahlen können. Früher finanzierten lettische Geschäftsbanken den Autokauf. Doch in den letzten Jahren scheuten sie davor zurück, Kunden für solche Anschaffungen Kredite zu gewähren. Die staatliche Bankenaufsicht kontrolliert die großen Geldinstitute schärfer. Bei Kreditvergabe prüfen Bankangestellte die Zahlungsfähigkeit ihrer Kunden sorgfältiger.


Auf dem lettischen Finanzmarkt haben nun im gesetzlichen Graubereich agierende Verleiher von sogenannten Schnellkrediten die Autofinanzierung übernommen. Sie überprüfen nicht, ob sich ihre Kunden das Auto überhaupt leisten können. Ist der Autokäufer, der sein Gefährt auf Kreditbasis finanzierte, mit der Rückzahlung überfordert, macht er mit skrupellosen Inkassofirmen Bekanntschaft. So verliert er nicht nur sein zu teuer bezahltes Auto, sondern muss auch noch zusätzliche Restschulden zurückzahlen, denn die Schnellkredit-Firmen verlangen Wucherzinsen. Kulbergs erläutert an einem Beispiel, dass bei einer Pfändung eines Autos, das mit dem Kredit einer großen Geschäftsbank bezahlt wurde, der Wert des Fahrzeugs fast die Kreditsumme deckt. Die Mehrzahlung durch Zinsen beträgt etwa 1200 Euro. Bei einem Schnellkredit beträgt die Mehrzahlung zuweilen mehr als 7000 Euro; der Autowert deckt die Kreditsumme nur zum Teil und der Kunde muss auch nach Verlust des Autos weiter Kreditraten begleichen. Kulbergs schätzt, dass solche Kreditnehmer für ein zwölf Jahre altes Auto einen Gesamtbetrag bezahlen, der dem Preis eines Neuwagens entspricht.


Kulbergs sieht darin einen Vorboten für eine bedenkliche gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die ihn an die Zeit der Finanzkrise erinnert. Die Zunahme gepfändeter Autos weist auf die schwindende Kaufkraft der Verbraucher, das sei das “erste Anzeichen dafür, dass eine Wirtschaftskrise bevorsteht”, die im Winter, wenn geheizt werden muss, die lettischen Verbraucher erneut in existenzielle Nöte stürzen könnte. Im Juli hatte Lettland nach Estland mit 21,3 Prozent die zweithöchste Inflationsrate innerhalb der EU (statista.com). Besonders die horrend steigenden Lebensmittelpreise machen den Verbrauchern zu schaffen. Kulbergs meint, dass sich die Menschen vorbereiten, ihre Existenz zu sichern und sich überlegen, wie sie ihre Familien versorgen. Kreditrückzahlungen werden dabei immer weiter verschoben. Während der Finanzkrise reagierte die damalige Regierung des heutigen EU-Kommisars Valdis Dombrovskis prozyklisch und kürzte die Gehälter; jeder vierte lettische Lohnempfänger verlor seinen Job. Kulbergs befürchtet, dass die Inflation einen ähnlichen Effekt hat: Auch sie schwächt die Kaufkraft der lettischen Bevölkerung erheblich. Er schätzt, dass die Inflation im Winter auf über 40 Prozent ansteigen könnte und somit die Kaufkraft sogar mehr geschwächt werde als zur Zeit der Finanzkrise. „Das bereitet den Sorgen um die Zahlungsfähigkeit der Bevölkerung in der neuen Krisensituation eine reale Basis,“ meint Kulbergs. Er erinnert daran, dass die Finanzkrise von 2009 zu einem Emigrationsschub von etwa 200.000 Einwohnern führte, weil sie keinen Weg mehr sahen, in Lettland ihre materielle Existenz zu sichern, wo viele ihre Kreditraten nicht mehr aufbringen konnten. Der Autolobbyist warnt, dass die Folgen der Sanktionspolitik vergleichbar sein werden: „Lettland steht wieder eine ähnliche Situation bevor, in der möglicherweise viele Tausende das Land verlassen werden, weil sie einfach nicht in der Lage sind, Rechnungen oder Kredite zu bezahlen.“ Eine neue Auswanderungswelle könne sich Lettland aber nicht leisten.



Udo Bongartz 




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