Baltische Scharfmacher, westliche Weicheier? Die Georgien-Krise im Kreuzfeuer der Gesinnungen
02.09.2008
Russische Bomben auf Georgien erschüttern die internationalen Beziehungen. Die EU-Mitglieder streiten sich über Strafmaßnahmen gegen die Moskauer Regierung. Franzosen und Deutsche debattieren mit Briten, Balten und Polen über das Verhalten gegenüber den immer noch mächtigen Nachbarn im Osten. Obwohl unabhängige Informationen über die Situation in den georgischen Krisengebieten fehlen, be- und verurteilen manche Journalisten und Politiker so entschieden, als sei es ihr Auftrag, einen neuen Kalten Krieg herbeizukommentieren.
Georgische Demonstranten vor der Botschaft Rußlands in Tiflis. Foto: Wikimedia
Die heutigen russischen Panzer in Georgien erinnern an die sowjetischen von gestern in Ost-Berlin, Budapest und Prag. Die Osteuropäer haben hautnah erlebt, auf welche Weise und in welcher Absicht ihr großer Nachbar militärisch zu Hilfe eilt. Im Januar 1991 besetzten sowjetische Spezialeinheiten die Rigaer Innenstadt, doch sie konnten nicht mehr verhindern, dass die Letten ihre völkerrechtlich legitimierte nationale Unabhängigkeit wieder herstellten.
Furcht, Wut und innenpolitisches Kalkül scheinen sich in die osteuropäischen Forderungen zu mischen, die beabsichtigen, Russland von internationalen Verhandlungen auszuschließen. Die Osteuropäer appellieren an die G8-Staaten, russische Politiker nicht mehr zu ihren Gipfeln einzuladen und die Aufnahme Russlands in die Welthandelsorganisation zu verzögern. Überhaupt solle die Europäische Union ihr Verhältnis zum östlichen Nachbarn überprüfen. Doch was wäre für die Regierungen in Riga, Warschau oder Prag gewonnen, wenn sich der Westen weigerte, weiter zu verhandeln?
Askolds Rodins, Kommentator der Rigaer Tageszeitung Diena, schrieb kürzlich, Russlands derzeitiges Regime habe nun klar seine aggressive Natur gezeigt. Moskau sei imperialistisch und wild geworden, habe aber seine Ziele in Georgien nicht erreicht. Demnach sei es russische Absicht gewesen, Präsident Michail Saakaschwili zu stürzen und eine Aufnahme Georgiens in die NATO zu verhindern. Rodins schließt sich der Ansicht des französischen Außenministers Bernard Kouchner an, der warnte, dass die Krim, die Ukraine und Moldawien die nächsten Ziele russischer Aggression sein könnten. Der Journalist empfiehlt, sich um Gasprom und andere “Futtertröge” der russischen Elite zu kümmern und ihnen den Kauf von Unternehmen im EU-Raum zu untersagen. Zudem fordert er, die Pläne einer deutsch-russischen Erdgasleitung aufzugeben und russische Konten in der EU zu sperren. Das westeuropäische Zögern, baltischen Sanktionsfantasien nachzugeben, begründet Rodins mit der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas (Diena, 30. August). Doch an einer stabilen und preiswerten Energieversorgung müssten eigentlich auch Letten interessiert sein.
Unser Kollege vom lettland.blogspot weist auf Äußerungen der ehemaligen lettischen Außenministerin Sandra Kalniete hin, die zeigen, wie ungeniert Politiker mit antirussischer Polemik versuchen, die WählerInnen der kleinen Baltenrepublik für sich zu gewinnen. Sie behauptete, die Integration der russischen Minderheit in die lettische Gesellschaft sei gescheitert, das zeige sich im Georgien-Konflikt, in welchem der russischsprachige Bevölkerungsteil die Position Moskaus und nicht die Haltung der Rigaer Regierung unterstütze. Der Fall Kalniete verdeutlicht das Problem: Die Forderung nach richtiger Parteinahme erfolgt aufgrund schlimmer historischer Erfahrungen, die auf den aktuellen Konflikt übertragen werden. Kalnietes Familie war ein Opfer stalinistischer Gewaltherrschaft. Bis heute leugnet die russische Regierung, dass die baltischen Staaten von Stalin gewaltsam okkupiert und russifiziert wurden. Und trotzdem: Das autoritäre Regime Putins läßt sich nicht mit dem staatsterroristischen System Stalins gleichsetzen, und Tiflis 2008 ist kein Prag 1968.
Wenn schlimme historische Erfahrungen auf einen aktuellen Konflikt übertragen werden... Rußlands Präsident Dmitrij Medwedew als Duce Benito Mussolini, sein Ministerpräsident Wladimir Putin als Adolf Hitler. Plakat an einer Bushaltestelle in Tiflis, gepostet von Henning auf http://caucasus-pictures.blogspot.com
Nicht weniger problematisch sind Auslassungen westlicher Altvorderer wie Klaus Kinkel über angebliche “Demütigungen der Vergangenheit”, die Russland nun heimzahle. Damit ist vor allem die Aufnahme ehemaliger Ostblockstaaten in die NATO gemeint. Die Integration der baltischen Länder ins westliche Militärbündnis erscheint jenen Herren als Unrecht gegenüber Moskau, sind sie doch ehemaliges sowjetisches Territorium, das sich nun auf die andere Seite gestellt hat. Eine solche Haltung zeugt von einer imperialistischen Perspektive, die sich über historische Tatsachen hinwegsetzt. Die – angeblich russlandfreundliche - Klage über den Zerfall der Sowjetunion demütigt ihrerseits die Osteuropäer, stellt ihre Souveränität infrage und lässt schließlich den selbsternannten “Anwalt der Balten” (Kinkel über Deutschland) in einem arg merkwürdigen Licht erscheinen - um im Bild zu bleiben: fast könnte man da an Hintergehung eines Mandanten denken.
Überhaupt künden die derzeit gängigen psychologischen Spekulationen über die russische Befindlichkeit, Vergleiche und Auslassungen mehr von kommentierender Gesinnung als von erhellender Berichterstattung: Ist Süd-Ossetien mit dem Kosovo vergleichbar oder nicht? Darf man noch daran erinnern, dass der georgische Präsident Michail Saakaschwili die derzeitige Misere seines Landes herbeiführte? Sind Putins Spekulationen, der georgische Angriff auf Süd-Ossetien stehe im Zusammenhang mit dem US-Wahlkampf, so abwegig, dass sich der westliche Blätterwald darüber echauffieren muss? Hinter solchen Fragen scheint die Berichterstattung zu verschwinden. Kaum ein Kommentator weiß so wirklich, was in Georgien passiert. Ob den Korrespondenten vor Ort die Wahrheit verkündet oder Propagandamärchen erzählt werden, ist aus der Ferne kaum zu beurteilen.
Exemplarisch für die aufgeheizte Stimmung steht das Interview, das eine Zwölfjährige und ihre Tante dem US-Fernsehsender Fox lieferten. Dessen Journalisten stehen im Ruf, Propagandisten der Washingtoner Regierung zu sein. Die ARD strahlte dieses knapp vierminütige Interview aus, um die manipulierende Haltung US-amerikanischer Medien zu demonstrieren. Der ARD-Korrespondent machte sich dabei die Kreml-Interpretation zu eigen: Demnach habe der Moderator das Interview abgebrochen, als die Augenzeuginnen die georgische Regierung anklagten. Tatsächlich redete der Fox-Journalist dazwischen, um eine Werbe-Pause anzukündigen. Wer sich den Ausschnitt beim Internet-Videoportal Youtube ansieht, mag nicht glauben, dass die Programm-Macher von den Äußerungen überrascht wurden: Die Fragen und die Untertitelung zeigen, dass Fox wusste, dass die Interviewten die russisch-ossetische Perspektive darstellten. Dass diese “Breaking News” der Werbung halber unterbrochen werden mussten, ist im Mutterland aller Kommerzsender ein nachvollziehbares Argument.
Was diese ossetischen Flüchtinge wohl einem westlichen Berichterstatter erzählt hätten? Photo: Wikimedia
Nach den Erfahrungen mit den US-amerikanischen Propagandalügen vor den Golfkriegen, mit denen westliche Medien ihre Zuschauer manipulierten, mag man nur noch paranoid reagieren: Waren die beiden Frauen wirklich Augenzeuginnen? In Anbetracht der geschilderten Erlebnisse wirkten sie ausgesprochen cool und trotz Zeitknappheit dringend bemüht, ihr wohlformuliertes Statement gegen Saakaschwili zu verlautbaren.
Die Medien scheinen aus den Propagandatricks der Vergangenheit wenig gelernt zu haben. Vielleicht erfahren wir in einigen Jahren wieder einmal, dass alles ganz anders war.
Die Medien scheinen aus den Propagandatricks der Vergangenheit wenig gelernt zu haben. Vielleicht erfahren wir in einigen Jahren wieder einmal, dass alles ganz anders war.
Externer Linkhinweis:
Unter dem Titel “Fox News: 12 Year Old Girl Tells the Truth about Georgia” ist bei Youtube das erwähnte Interview zu sehen:
http://de.youtube.com/watch?v=-CZ_gi-sgCE&feature=related
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