Am 23.8. jährt sich zum 75. Mal der Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der u.a. den Einmarsch der Roten Armee in die baltischen Länder vorsah. Fünf Tage vor diesem Gedenktag wird Angela Merkel Lettland besuchen. Gestern, am 13.8.2014, veröffentlichten 31 lettische Repräsentanten des öffentlichen Lebens einen offenen Brief, der sich an die deutsche Regierungschefin richtet. Unter den Unterzeichnern befinden sich die Schriftstellerinnen M?ra Z?l?te und Gundega Repše, die Künstler Solveiga Vasi?jeva und Eižens Valp?ters, die Historiker Ritvars Jansons und M?rti?š Mintaurs und auch der bekannte Komponist P?teris Vasks. Ihr Schreiben wurde in den lettischen Medien verbreitet. Die Intellektuellen kritisieren Merkels Nein zu einer dauerhaften Nato-Präsenz in der mittleren Baltenrepublik. Dies lasse Zweifel an der Solidarität der Deutschen mit den Balten aufkommen. Der Brief verdeutlicht die mentalen Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropäern. Es scheint so, als ob Balten und Polen, die zu den Opfern des Zweiten Weltkriegs zählten, ein anderes Fazit aus der Geschichte als die Deutschen gezogen haben. Merkel soll sich aus moralischen Gründen für eine Nato-Basis einsetzen – damit sich keine Neuauflage eines verhängnisvollen deutsch-russischen Paktes wiederhole.
Angela Merkel schlecht gelaunt, Foto:
Das Trauma wirkt nach
Die Briefschreiber begründen ihre Merkel-Kritik historisch. Nachdem die Rote Armee Osteuropa von den Nazis befreite, habe sich das im Molotow-Ribbentrop-Pakt Beschlossene fortgesetzt: Ost- und Zentraleuropa sei unter der Kontrolle des totalitären Regimes der UdSSR geraten. Die baltischen Länder seien über 50 Jahre lang okkupiert und Deutschland geteilt gewesen. Mehrere Generationen Ost- und Zentraleuropäer litten unter der sowjetischen Aggression. Das Regime habe das Leben der Menschen unwiderruflich beeinflusst und verändert. Das Ausmaß dieser Inhumanität, ein Trauma, lasse sich mit Zahlen allein nicht ausdrücken. In Ost- und Zentraleuropa, aber insbesondere in den baltischen Ländern habe sich die Entwicklung der Demokratie um ein halbes Jahrhundert verzögert. Millionen von Menschen seien gezwungen gewesen, in Todesangst und in einer Atmosphäre des Terrors zu leben. Dann appellieren die Kritiker an das Verständnis der Ostdeutschen: „Sie, Frau Merkel, haben selbst unter der totalitären sowjetischen Ideologie der verbrecherisch repressiven, von der Stasi kontrollierten DDR gelebt, Sie, die den Fall der Berliner Mauer und die schmerzlichen Probleme erfahren haben, welche die Deutschen überwinden mussten, um sich Anfang der 90er Jahre wieder zu vereinigen, sind sich des zuvor Erwähnten gewiss bewusst. Gleiches gilt für die besondere historische Rolle, die Deutschland in der baltischen Region spielt.“
Churchill, Roosevelt und Stalin auf der Jalta-Konferenz 1945, Foto: Wikimedia Commons
Gleichsetzung Putins mit Stalin und Hitler
Die Merkel- und Deutschlandkritiker sehen viele Gemeinsamkeiten zwischen der ehemaligen Sowjetunion und dem heutigen Russland. Ihrer Meinung nach agiert Putins Russland ähnlich aggressiv und bedrohlich wie Stalins Sowjetunion oder das Dritte Reich: „Als Russland mit der Okkupation der zur Ukraine gehörenden Halbinsel Krim mit der Generation neuester Kriegstechnik begann, bekundeten Sie öffentlich, dass Russlands Präsident Wladimir Putin `das Gespür für die Realität verloren` hat. In den baltischen Ländern veranstaltet Russland bereits seit einigen Jahren einen Informationskrieg, den die Balten tagtäglich zu spüren bekommen. Diese beträchtlichen Mittel, die man in diesem Informationskrieg einsetzt, werden jedoch nicht ohne ein bestimmtes Ziel verwendet. Die politischen Eliten aller drei Staaten sind sich der Bedrohung für die Sicherheit der baltischen Länder bewusst, wenn sie ebenso Parallelen zu Österreichs Inkorporation ins Dritte Reich im Jahr 1938 ziehen wie zum Jahr 1939, als zwei totalitäre Großmächte sich über die Teilung Europas einigten.“ Nur Nato und EU garantierten Schutz vor russischer Aggression. „Daher sind wir der Ansicht, dass in unseren Ländern an Europas Ostgrenzen derzeit eine größere militärische Nato-Präsenz erforderlich ist. In gewisser Hinsicht mag dies der entscheidende Beschluss für die Zukunft der baltischen Staaten sein.“
Am 9. April 2010 eröffnete der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew feierlich den Bau der Nordstream-Pipeline, die Gas von Russland nach Deutschland liefert, Foto: Kremlin.ru
Letten unterstellen den Deutschen wirtschaftliche Motive
Die Letten unterstellen den Deutschen monetäre Beweggründe, deretwegen sie nicht entschieden gegen Russland Position beziehen: „Deutschland verheimlicht nicht, dass es beträchtliche Investitionen und Anlagen in einem der größten Märkte der Welt hat – Russland. Deutschland beteiligte sich auch an dem von russischer Seite initiierten Bau einer Erdgasleitung, doch heutzutage wird in der öffentlichen Meinung die Energieabhängigkeit von Russland als sehr negativ betrachtet.“ Die Briefschreiber fühlen sich moralisch im Recht und mutmaßen, dass die Deutschen nur aus wirtschaftlichen Gründen zaudern: „Frau Merkel! Moral, dazu zählt auch die politische Moral, lässt sich nicht in den Kategorien des Geldes fassen und finanzielle Indikatoren dürfen nicht wichtiger sein als die Sicherheit europäischer Staaten. Wenn jemand anfängt, darüber anders zu denken, dann hat er `das Gespür für die Realität verloren`. Das Umschreiben der Grenzen und der Geschichte ist nicht hinnehmbar, weder auf der Krim und in der Ukraine, noch in Europa. Wir fordern Sie auf, den Aufbau von Nato-Stützpunkten in den baltischen Ländern und in Osteuropa zu unterstützen! Ihre Zusage wird bezeugen, dass ein erneuter verräterischer Pakt in der Art des Molotow-Ribbentrop-Vertrags sich in Europa nicht wiederholen wird.“
Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts am 24.8.1939, Foto: Wikimedia Commons
Mentaler Graben zwischen Ost und West
Der Brief der lettischen Intellektuellen verdeutlicht, welcher mentale Graben sich zwischen Deutschen und Letten auftut. Während die Bundesregierung sich in Teilen der deutschen Öffentlichkeit der Kritik ausgesetzt sieht, zu us-freundlich und zu antirussisch zu agieren, fordern lettische Meinungsmacher das genaue Gegenteil: Militärische Abschreckung und klare Kante gegen Russland. Am 18.8.2014 wird Angela Merkel in Riga eintreffen. Sie wird mit Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma und Staatspräsident Andris B?rzi?š sprechen. Auch B?rzi?š erhielt vor einigen Monaten einen kritischen Brief, in welchem ihm Intellektuelle seine öffentliche Zurückhaltung angesichts der Krimkrise vorwarfen. Russland und die Ukraine-Krise werden gewiss ein wichtiges Gesprächsthema bilden. Ob Neues zu einer lettischen Nato-Basis zu vernehmen sein wird, bleibt abzuwarten. Nicht alle Letten scheinen ihren Intellektuellen zu folgen. Die Initiative, die Werbefachmann K?rlis Gedrovics Ende April 2014 auf dem Portal für politische Initiativen, manabalss.lv, für eine lettische Nato-Basis startete, hat bislang erst 669 Stimmen erbracht.
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Externe Linkhinweise:
ir.lv: V?stule Merkelei Molotova-Ribentropa pakta 75.gadadien?
diena.lv: Latvij? n?kamned?? viesosies V?cijas kanclere Merkele
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