Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Lettland will bis 2050 klimaneutral sein
18.09.2019


Große Absichten, kaum Konkretes, aber viele "Herausforderungen"

Himmel über LettlandWer seinen Blutdruck erhöhen möchte, braucht in manchen Debattierrunden nur die Stichworte „Klimaschutz“ oder gar „Greta“ in die Runde zu werfen und wird laute Zurechtweisungen oder ein spöttisches Grinsen über die angeblich geäußerte Naivität ernten. Das Dasein als „Klimaskeptiker“ scheint eine neue Spielart eines individualistischen „express yourself“ (books.google.de) darzustellen, bei dem nicht Erkenntnisse, sondern Haltungen gefragt sind. Da haben jene, die es wissen, die Klimaforscher, schlechte Karten und sehen sich ausgerechnet von den bewussten oder unbewussten Verteidigern jener Industrie, welche aus Profitinteresse eine Untersuchung zur Klimaerwärmung jahrzehntelang geheimhielt (spiegel.de), belehrt, ihre Warnungen hätten lediglich den Zweck, öffentliche Gelder für die eigenen Institute zu akquirieren - eine weitere Tragikomödie im globalen Absurdistan. So kommt es zu den Verzögerungen, welche die Fridays-for-Future-Bewegung beklagt. Hans Joachim Schellnhuber, der Gottseibeiuns deutscher Klimaskeptiker, sagte in einem Vortrag, dass Anfang der 90er Jahre, als das Phänomen Klimaerwärmung längst als Problem erkannt war, eine Begrenzung des Temperaturanstiegs noch viel leichter und schonender möglich gewesen wäre (youtube.de). Nun sind wir in einer Situation, in der manche Wissenschaftler schon befürchten, dass der „point of no return“, der leider nicht zum Orgasmus, sondern in die Katastrophe führt, nicht schon erreicht sein könnte. Wie reagiert das politische Establisment? Manche Politiker scheinen immer noch mit der Natur verhandeln zu wollen, um die bevorstehende Rezession zu verhindern und die Schwarze Null zu retten. Doch die Natur stellt sich ziemlich doof, agiert uneinsichtig nach Gesetzen, die sich weder durch ein Parlament noch durch einen Regierungsbeschluss verändern oder abschaffen lassen. Jüngst sollte sich der Europäische Rat, also die entscheidende Runde nationaler Regierungschefs in Brüssel, dazu verpflichten, dass bis 2050 alle EU-Länder klimaneutral sind. Doch nicht nur Lettlands Nachbar Estland, auch die üblichen Verdächtigen, nämlich Polen, Tschechien und Ungarn, blockierten diesen Beschluss. Nun steht die EU, wie Stefan Krempl formulierte, „vor dem nächsten UN-Klimagipfel [vom 21. bis 23.] September in New York weitgehend mit leeren Händen da.“ (heise.de) Journalistin Susanne Schwarz erinnert daran, dass das Vorhaben, bis 2050 nur noch soviel Kohlendioxid auszustoßen, wie von Mooren und Pflanzen wieder gebunden werden kann, eine Forderung des Weltklimarats IPCC ist, um das Pariser Klimaabkommen, auf das sich die Mitgliedstaaten der UN verpflichtet haben, doch noch einzuhalten (klimareporter.de). Nach langem Zögern schloss sich im Juni Deutschland, lange hinterherhinkend, doch noch diesem Ziel an. Lettland hatte sich bereits im letzten Jahr dazu bekannt (varam.gov.lv).

Wolken über Lettland, Foto: LP

Lettische Klimaforscher bestätigen für ihr Territorium die international zu beobachtenden Tendenzen: Raimonds Kasparinskis beziffert, dass zwischen 1795 und 2010 der mittlere Temperaturanstieg in Riga 1,3 Grad betrug. Die bislang höchste Temperatur wurde 2014 mit 37,8 Grad in Ventspils gemessen. Auch hierzulande verzeichnen die Meteorologen mehr Starkregen (ciklons.tvnet.lv). Doch die abstrakten Zahlen wurden lange von der Öffentlichkeit ignoriert.

Manche Berichterstattung schien hierzulande sogar mit der Aussicht auf klimatische Veränderung zu frohlocken: An der Ostsee würde es zukünftig angenehm warm, das fördere gute Laune und Tourismus, die Bauern könnten mehr ernten (LP: hier). Doch wie die Zukunft tatsächlich aussehen könnte, verdeutlichte der Sommer 2018. Er bedeutete auch für Letten Dürre, gesundheitsschädliche Hitze, Waldbrände und Missernten. Nun scheint sich das Bewusstsein zu wandeln und im lettischen Umweltministerium der Ernst der Lage erkannt zu sein.

Artur Runge-Metzger, Direktor für Klimastrategie und Internationales bei der EU-Kommission, wird von der Zeitung „taz“ als „absoluter Experte in Sachen Klimaschutz und als hervorragender Diplomat“ bezeichnet (taz.de). Als er Anfang Juni Riga besuchte, fand er für die lettische Umweltpolitik lobende Worte: Lettland habe seine Verpflichtungen auf europäischer Ebene gut erfüllt. In Europa habe man gerade ein neues System für das Jahr 2030 beschlossen und Lettland ein staatliches Projekt zur energetischen und klimatischen Planung ausgearbeitet. Daher ist Runge-Metzger der Ansicht, dass spezielle Maßnahmen angepackt worden seien. Ob man am Ende des Weges sei, werde weiter analysiert, aber die Ausgangslage sei gut, denn viele Ministerien seien interessiert, in Zukunft einen Beitrag zu leisten, was eine Herausforderung werde. (lsm.lv)

Raimonds Kass, Leiter des Referats Klimawandel im Ministerium für Umwelt und regionale Entwicklung (VARAM), erarbeitet mit seinen Angestellten schon seit 2016 Pläne zur Klimaneutralität. Das Gleichgewicht zwischen Klimafragen und den Besonderheiten verschiedener Bereiche zu finden sei eine Herausforderung. Wichtig sei, ein gemeinsames Verständnis für das anzustreben, was bis 2050 erreicht werden solle. Darüber diskutiere man und die Fragen könne man schon im Herbst überprüfen.

Für Lettland nannte Kass folgende Zahlen: „Die wichtigsten Ursachen für treibhausrelevante Gase waren 2017 der Energiebereich mit 34 Prozent, der Verkehrssektor mit 25 Prozent und die Landwirtschaft mit 25 Prozent, im geringeren Umfang ihrerseits der Bereich der Abfallbewirtschaftung mit fünf sowie industrielle Prozesse und Produktnutzung im Umfang von sieben Prozent. Unzweifelhaft stellt jeder dieser Bereiche eine Herausforderung dar, wenn man die Emissionen verringern will.“

Als besonders problematisch erachtet Kass die wachstumsorientierte lettische Landwirtschaft: „Der landwirtschaftliche Bereich ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Produktion im Lauf der Jahre vergrößern wird, somit wird der Viehbestand und die Produktivität steigen, das erschwert es, Maßnahmen zur Emissionsverringerung einzuführen und erfordert zudem mehr Geld. Deshalb ist dieser Bereich die größte Herausforderung für die Energieversorgung, wogegen die Einführung erneuerbarer Energien leichter ist und beispielsweise sich die Heizung der Gebäude effektiver gestaltet.“ (lsm.lv) Allerdings gibt der Referatsleiter zu, dass bislang keine verpflichtenden Maßnahmen für die verschiedenen Emissionsbereiche formuliert worden sind.

Daran stört sich Janis Brizga, Vorsitzender des öffentlich geförderten Think Tanks „Zala briviba“ (Grüne Freiheit). In diesem Sommer sei der Premier Krisjanis Karins zu den ambitioniertesten Ländern der EU gestoßen und habe erklärt, bis 2050 zu einem „emissionsfreien Lettland“ überzugehen. Doch für Brizga bleiben solche Aussagen Absichtserklärungen ohne konkretes Handeln. Man müsse auf EU-Ebene strikte Begrenzungen festlegen, um nicht Unternehmen in einzelnen Ländern zu benachteiligen.

Auch die einzelnen Konsumenten sieht Brizga in der Verantwortung: „Wir fahren immer mehr und mehr mit Privatfahrzeugen. Ungeachtet dessen, dass sie effektiver werden und auf 100 Kilometer weniger Treibstoff benötigen, sind doch der größte Teil des Autobestands Diesel, welche zusätzlich die Luft verschmutzen und den Klimawandel verursachen. Im lettischen Verkehrsbereich herrschen im Vergleich zu anderen EU-Ländern bei Neukäufen Autos mit den stärksten Motoren und den größten Emissionen vor. Jene, die in Lettland Neuwagen erwerben, kaufen nach Möglichkeit größere und stärkere, da gibt es eine andere Motivation.“

Um lettische Wälder steht es ebenfalls nicht zum besten: „Wir haben in Lettland auch die Waldwirtschaft sehr intensiv betrieben. Wenn in den letzten 20 Jahren unsere Wälder mehr CO² gebunden haben, als das ganze Land an Emissionen verursachte, was eine sehr positive Bilanz war, dann hat sich die Lage jetzt geändert und es gab mehrere Jahre, in denen der Bereich Wald mehr Emissionen verursacht als gebunden hat.“ Damit sind offenbar Abholzung, Brände und das Absterben der Bäume gemeint.

Doch in der Düsternis qualmender Verbrennungsmotoren und sterbender Bäume zeigt sich ein Lichtlein am Horizont: Salaspils hat vor kurzem als erste Stadt im Baltikum Sonnenkollektoren aufgestellt, um die Einwohner mit Fernwärme zu versorgen. Das verringert nicht nur die Treibhausemissionen, sondern auch die Heizkosten (lsm.lv). Und am 20. September 2019 werden sich lettische Schüler wieder am Aktionstag der Fridays-for-Future-Bewegung beteiligen. (facebook.lv)

 

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