Karins macht Russlands Armut für abgebremstes lettisches Wachstum verantwortlich
Vom 9. bis 15. Juli 2019 hielt sich der lettische Ministerpräsident Krisjanis Karins in Washington auf. Er besprach mit US-Vizepräsident Mike Pence und weiteren Vertretern der Trump-Regierung die wechselseitigen Beziehungen in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht, warb um US-Investoren für das eigene Land (mk.gov.lv). Auf einer Diskussionsveranstaltung des transatlantischen Think Tanks „The Atlantic Council“ zum Thema „Das Verhältnis zwischen den USA und Lettland in der Zeit europäischen Wandels“ vom 10. Juli 2019 forderte Karins mehr Freundschaft statt Konkurrenz zwischen den transatlantischen Verbündeten. Er verteidigte Deutschland vor den Forderungen der Trump-Regierung, das nationale Militärbudget auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen und machte Russland für die Abbremsung der lettischen Wirtschaft verantwortlich.
Krisjanis Karins, Foto: Foto-AG Gymnasium Melle, CC BY-SA 3.0, Saite
„In Deutschland ist die historische Erinnerung sehr viel präsenter“
Noch anlässlich des 70. Jahrestages der NATO-Gründung am 4. April 2019 hatte Donald Trump in Gegenwart des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg verkündet, dass er immer wieder über Deutschland sprechen müsse, weil es seinen Rüstungsverpflichtungen nicht nachkomme. „Deutschland, um ehrlich zu sein, bezahlt nicht seinen fairen Anteil.“ (politico.eu) Die NATO-Staaten hatten 2014 vereinbart, mindestens zwei Prozent ihres BIP für militärische Zwecke auszugeben. Bislang erreichen nur wenige Mitglieder des Militärbündnisses diese Zielmarke, unter ihnen befindet sich Lettland, das in wenigen Jahren die Ausgaben für die nationale Armee verdoppelt hat (LP: hier).
In Deutschland ist diese beträchtliche Aufrüstung umstritten. Sie kostete Milliarden: Erfüllte die deutsche Regierung Trumps Wünsche, gäbe das NATO-Mitglied Deutschland allein ähnlich viel für Soldaten und Waffen aus wie derzeit die Atommacht Russland und wendete wieder einen ähnlich hohen volkswirtschaftlichen Anteil für die Bundeswehr auf, wie er vor 1990 in Westdeutschland üblich war. Schon jetzt kommt die deutsche Regierung den Forderungen Trumps und der NATO im erheblichen Umfang nach. Seit dem NATO-Beschluss 2014 in Wales sind die deutschen Militärausgaben um 40 Prozent erhöht worden (bmvg.de). Während der Gesamthaushalt der Bundesregierung 2020 nur um ein Prozent ansteigen soll, sind für die Bundeswehr 3,9 Prozent vorgesehen. 2018 befand sich Deutschland in der Liste der Staaten mit den weltweit höchsten Militärausgaben auf Rang 8 (statista.com). Horst Teltschik, einst Berater Helmut Kohls, wundert sich übrigens, wieso die Europäer angesichts des neuen Wettrüstens „so ruhig bleiben“ (youtube.de). Der ehemalige CDU-Politiker und heutige Publizist Jürgen Todenhöfer, der Bücher zu den Konflikten im Nahen Osten schreibt, kritisiert ebenfalls die hohen Militärausgaben Deutschlands und der NATO und beklagt die Wandlung der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zur Interventionsarmee, die sich an Angriffskriegen beteiligt (facebook.com).
Doch nun erhalten jene in Deutschland, die eine derartige Aufrüstung verhindern wollen, Unterstützung von unerwarteter Seite. Karins, der sich in der Zwei-Prozent-Forderung mit der US-Regierung prinzipiell einig weiß, zeigt Verständnis für einen geringeren deutschen Militärhaushalt. Seiner Ansicht nach müsse man Deutschlands schwierige Vergangenheit in Rechnung stellen. Die Deutschen seiner Generation seien mit dem Schuldgefühl aufgewachsen, zwei Weltkriege bewirkt zu haben und das sei verbunden mit einer kompletten Abneigung gegen militärische Gewalt. Während die USA und andere europäische Länder in Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg weniger empfindsam seien, „ist in Deutschland die historische Erinnerung sehr viel präsenter,“ seiner Ansicht nach besonders in der politischen Klasse, welche angesichts steigender Militärausgaben zögerlich bleibe. Zugleich verwahrte sich Karins gegen die Kritik, dass die Deutschen auf Kosten der USA lebten: „Die Deutschen stecken verdammt viel Geld in die Entwicklungshilfe. Die Deutschen zeigen gewiss keine Abneigung, Geld auszugeben.“ Aber die „völlige Abneigung gegen militärische Gewalt“ in Deutschland sei ein berechtigter Grund, behutsam mit den miltärischen Möglichkeiten umzugehen (atlanticcouncil.org).
Karins gibt Russland die Schuld an der Abbremsung des lettischen Wachstums
Karins` Verständnis für die zögerliche deutsche Aufrüstung macht ihn nicht gleich zum Vertreter einer neuen Entspannungsdiplomatie, zumindest seine Äußerungen zu Russland deuten nicht darauf hin. Auf der Veranstaltung behauptete er, dass Russlands Armut das Wachstum der lettischen Volkswirtschaft bremse, dazu zitiert die Zeitung Latvijas Avize (LA) die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti. Karins sagte in der Diskussion: „Unser potenzieller Handelspartner Russland ist ein armes Land. Das Handelsvolumen Russlands mit uns beträgt weniger als zehn Prozent. Das ist lächerlich. Die Schwäche unseres Nachbarn hat unser Wachstum gebremst.“ (la.lv) Solche Sätze klingen angesichts der strikten lettischen Sanktionspolitik gegen den großen Nachbarn befremdlich. LA-Journalist Maris Antonevics berichtete im selben Artikel vom 26. Juli 2019 über die verärgerten russischen Reaktionen, darunter einem Wirtschaftsexperten, der sich dazu auf dem Nachrichtenportal Sputnik geäußert habe.
Es ist aufschlussreich, Antonevics zu zitieren, um die wechselseitige propagandistische Abneigung lettischer und russischer Medien nachzuvollziehen: „Seine beliebte Methode mit der benötigten Erfragung einer `Expertenmeinung` wählte das Portal `Sputnik`, das diesmal einen Wirtschaftswissenschaftler mit dem Namen Doktor Aleksei Zubcow anführte. Er bemühte sich zunächst, Russlands Ehre zu retten, indem er darstellte, dass gemäß UN-Standards es zu den Ländern mit einem `hohen sozialökonomischen Entwicklungsniveau` gezählt wird, dass das BIP pro Einwohner `vergleichbar mit dem Lettlands` ist. Karins` Äußerung betrachte er als sehr sonderbar. `Solche Erklärung von lettischer Regierungsseite ist Chauvinismus und der Versuch, die eigenen Einwohner hinters Licht zu führen [wörtlich: Nudeln in die Ohren zu stopfen]. Russland ist ein zahlungskräftiges Land mit großer Einwohnerzahl und hohem BIP. (...) Was die Abbremsung der lettischen Wirtschaft betrifft, so hat sie einfach Russland nichts anzubieten.`“
Antonevics zitierte noch weitere russische Webportale, kritisierte deren stereotype Berichterstattung über Lettland und verzerrte Wiedergabe der Atlantic-Council-Diskussion mit dem lettischen Regierungschef. Tatsächlich war Russland nur ein Randthema, hauptsächlich befassten sich Karins und seine Fragestellerin mit den Beziehungen zwischen den USA, Lettland und der EU in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht (youtube.com). Die USA seien der Garant für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, meinte Karins. Er forderte Freundschaft statt Konkurrenz zwischen den transatlantischen Mächten, bekannte sich allerdings gleichzeitig zu „free markets“, also zum Prinzip des liberalisierten Freihandels, das Konkurrenz und Gegnerschaft bedingt, was von Trump derzeit undiplomatisch offen formuliert wird. Statt dessen schilderte Karins, der in den USA aufwuchs und nach seiner Übersiedlung nach Lettland die neoliberale Partei Jaunais Laiks mitgründete, den Freihandel zwischen den reicheren westlichen Ländern als „Win-Win-Situationen“ - manche Regierungen innerhalb des Euro-Raums - und nicht nur dort - dürften Einspruch erheben.
Übrigens: Laut IWF lag Russland im Jahr 2017 im internationalen BIP-Ranking pro Kopf von 192 Ländern mit 10.608 Dollar auf Rang 66, knapp vor dem Weltdurchschnitt von 10.587 Dollar. Kaufkraftbereinigt stand es mit 27.834 PPP-Dollar allerdings deutlich besser da: auf Rang 52. Lettland errang im selben Jahr mit 15.547 Dollar Rang 54, und mit 27.644 PPP-Dollar ebenfalls Rang 54 - zwei Plätze hinter Russland (wikipedia.de).
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