Wenn der Feind verbrannt wird: LTV 1 zeigte die Dokumentation The Soviet Story von Edvins Snore
24.06.2008
Am 14. Juni 2008 trübten nach vielen heiteren Tagen trauriggraue Wolken den Himmer über Lettland. Regen fiel auf das Lettische Okkupationsmuseum, das sich als schwarzer Block im Zentrum der Hauptstadt Riga erstreckt. Dort gedachte der Politikwissenschaftler und Filmemacher Edv?ns Šnore gemeinsam mit Politikern, Wissenschaftlern und Angehörigen von Deportierten der Ereignisse, die sich vor 67 Jahren in ihrem Land zugetragen hatten: In der Nacht zum 14. Juni 1941 verschafften sich bewaffnete Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes, der sogenannten Tscheka, Zutritt zu zahlreichen Wohnungen überall im Land. Die Eindringlinge erklärten den Bewohnern, dass sie auf der Stelle abtransportiert würden. Auf den Bahnhöfen trennten die Schergen die Männer von ihren Frauen und Kindern, um beide Gruppen in verschiedene GULAG-Lager der sibirischen Weiten zu verfrachten. Oft erwartete die Gefangenen ein Platz in freier Natur, auf dem sie die Baracken selbst errichten mussten. Etwas mehr als 14 000 Letten wurden allein an diesem Tag in die Viehwaggons gepfercht. Rund 5 000 fanden den Tod, auch die Stalinisten wussten, wie man durch Arbeit Menschen vernichtet.
Titelvorspann von The Soviet Story. Vom Bildschirm abphotographiert von Udo Bongartz
Seit die Rote Armee ein Jahr zuvor mit der erpressten Zustimmung Lettlands eingerückt war, um den angeblich “freiwilligen” Beitritt der kleinen Ostseerepublik, aber auch der Nachbarstaaten Estland und Litauen zur Sowjetunion abzusichern, herrschte im Baltikum der rote Terror, der darauf zielte, die Angehörigen des Bildungsbürgertums und der Oberschicht zu vernichten. Er traf Politiker, Lehrer, Polizisten und Soldaten, im überproportionalen Maß auch Juden. Letztlich war niemand vor den willkürlichen Tscheka-Übergriffen gefeit.
Ende Juni 1941 besetzte die deutsche Wehrmacht Lettland. Für Hitlers Propagandamaschinerie sollten sich die sowjetischen Deportationen als das sprichwörtliche “gefundene Fressen” erweisen. Flugs bauschten die Nationalsozialisten die Zahl der Opfer auf 34 000 auf, als ob das “Jahr des Schreckens” schon so nicht schlimm genug gewesen wäre. Und ganz so, als wolle es diese Unterstellung nachträglich rechtfertigen, ließ Moskau nach der Rückeroberung Lettlands Ende der 1940er Jahre fast 43 000 Einwohner nach Sibirien deportieren. Solche und ähnliche Verbrechen der stalinistischen Ära sind aber im Westen weiterhin kaum bekannt – im Zeichen des gemeinsamen Kampfes (und Sieges) gegen das Dritte Reich standen sie hier kaum zur Debatte, und im Osten noch weniger. Selbst die erschütternde, inzwischen auch ins Deutsche übersetzte Familienchronik der ehemaligen lettischen Außenministerin und EU-Kommissarin Sandra Kalniete Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee hat daran bislang wenig daran ändern können.
Ende Juni 1941 besetzte die deutsche Wehrmacht Lettland. Für Hitlers Propagandamaschinerie sollten sich die sowjetischen Deportationen als das sprichwörtliche “gefundene Fressen” erweisen. Flugs bauschten die Nationalsozialisten die Zahl der Opfer auf 34 000 auf, als ob das “Jahr des Schreckens” schon so nicht schlimm genug gewesen wäre. Und ganz so, als wolle es diese Unterstellung nachträglich rechtfertigen, ließ Moskau nach der Rückeroberung Lettlands Ende der 1940er Jahre fast 43 000 Einwohner nach Sibirien deportieren. Solche und ähnliche Verbrechen der stalinistischen Ära sind aber im Westen weiterhin kaum bekannt – im Zeichen des gemeinsamen Kampfes (und Sieges) gegen das Dritte Reich standen sie hier kaum zur Debatte, und im Osten noch weniger. Selbst die erschütternde, inzwischen auch ins Deutsche übersetzte Familienchronik der ehemaligen lettischen Außenministerin und EU-Kommissarin Sandra Kalniete Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee hat daran bislang wenig daran ändern können.
Das Schweigen zu lüften ist eine Dokumentation von Šnore angetreten, die das staatliche lettische Fernsehen nun zum Jahrestag des ersten sowjetischen Einmarsches am 16. Juni 1940 ausstrahlte. Der Titel des Filmes – The Soviet Story – ist kein Zufall, ebenso die englischsprachige Kommentierung (für die Letten mußte der Streifen eigens untertitelt werden). Šnore wendet sich mit seinem Film nämlich an Westeuropäer, die von der sowjetischen Terrorherrschaft wenig wissen – oder wenig wissen wollen. Der Zuschauer wird mit Leichenbergen konfrontiert, mit Bildern pervers gequälter Opfer. Anfang der dreißiger Jahre ließ Stalin beispielsweise Millionen Ukrainer gezielt verhungern. Diese und viele weitere Film-Sequenzen könnten auch aus einer Dokumentation über den Holocaust stammen. Millionenfacher Massenmord stellt Nazis und Stalinisten auf eine Stufe.
Für Letten untertitelt: Szenen aus The Soviet Story. Vom Bildschirm abphotographiert von Udo Bongartz
Šnores Absicht ist es, die osteuropäische Perspektive darzustellen. Diese betont die Gleichartigkeit, nicht die Gegensätzlichkeit dieser totalitären Regime. Und die Ähnlichkeiten sind augenfällig: Der Zuschauer sieht kommunistische und nationalsozialistische Propagandaplakate gegenübergestellt: Kühne Helden der Arbeit und des Kampfes sowie glückliche Frauen mit geflochtenem Haar waren hier wie dort beliebte Motive. Sie gleichen sich als muffige, anti-moderne, ebenso biedermeierliche wie pathetische Parodien des bürgerlichen Realismus.
Kühne Helden der Arbeit und des Kampfes sowie glückliche Frauen mit geflochtenem Haar über Leichenbergen. Plakat zu The Soviet Story
Auch die sozialistischen Vordenker kommen in Šnores Dokumentation nicht gut davon: So benutzt Karl Marx das Wort “Völkerabfälle” für vermeintlich kulturell rückständige Ethnien, die der Revolution geopfert werden müssten.
Andererseits entdeckte der Filmemacher in der NSDAP eine Menge Sozialismus: Joseph Goebbels war zunächst Lenin-Fan, Adolf Hitler hatte von Marx einiges gelernt, bevor er zum Anti-Marxisten mutierte. Auch die Verkünder des völkischen Glaubens betrachteten sich als Revolutionäre. Die Absicht, die fast vollständige Gleichheit der beiden totalitären Ideologien darzulegen, ist allerdings eine selektive Sicht, die von Historikern kritisiert werden dürfte: Dass sich die Nationalsozialisten bis zu ihrer “Machtergreifung” zu einer Volkspartei entwickelten, die sich lieber mit antidemokratischen Monarchisten statt mit Sozialdemokraten oder Kommunisten verbündete, erfährt der Zuschauer nicht. Und dass dieselben Nazis zusammen mit dem Adel in den zwanziger Jahren die Fürsten-Enteignung verhinderten, ist für eine sozialistische Partei ein zu sonderbares Verhalten, als dass es in Šnores Film erwähnt werden konnte. Ein feudalistisch-moderner Ständestaat, in welchem für Osteuropäer, zu “rassisch Minderwertigen” abqualifiziert, die Rolle der Leibeigenen vorgesehen war, bildete die Basis der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und nicht eine klassenlose Gesellschaft. Einen größeren Gegensatz kann man sich zwischen politischen Utopien kaum denken. Der Film demonstriert die Gefährlichkeit beider, wenn ihre Vorkämpfer dafür bereit sind, über Leichen zu gehen.
Egal, ob man diese totalitären Herrschaften in ihrer Gleichheit oder in ihren Gegensätzen beschreibt: Massenmord bleibt Massenmord und Šnore zeigt, dass sich die angeblich verfeindeten Regime dabei tatkräftig unterstützten: Nach dem Hitler-Stalin-Pakt lenkten sowjetische Radaranlagen die Nazi-Flugzeuge über Polen. Juden, die vor ihrer Vernichtung flohen, schickten die Sowjets ins Deutsche Reich zurück. Sowjetische Geheimpolizisten plauschten mit ihren Freunden von der Gestapo über die Endlösung der Judenfrage. Russische Historiker bestreiten nun die Echtheit der Dokumente.
Wie schwierig es um die Darstellung der osteuropäischen Perspektive bestellt ist, hatte Sibirien-Kind Kalniete bei der Eröffnungveranstaltung der Leipziger Buchmesse 2004 erfahren müssen: in ihrer Rede hatte sie von Erkenntnissen gesprochen, dass die beiden totalitären Regimes Nationalsozialismus und Kommunismus gleichermaßen kriminell gewesen seien. Daraufhin hatten der Vizevorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Salomon Korn, und einige Berater den Saal verlassen. Korn erklärte anschließend: "Das höre ich mir nicht an. Das war unerträglich". Man dürfe nicht den Nationalsozialismus, der 48 Millionen Menschen das Leben gekostet habe, mit dem Kommunismus gleichsetzen.
Über die umstrittene Aussage hinaus hatte Kalniete in der Ansprache betont: "Für mich ist Europa gleich Europa, es ist wieder vereint und frei". Darin habe jeder Einzelne seinen Wert. Der Gegensatz zwischen altem und neuem Europa müsse im 20. Jahrhundert zurückgelassen werden. Die "Verlierer" der Geschichte, die 50 Jahre lang hinter dem Eisernen Vorhang gelebt hätten, müssten nun ebenso ihre Geschichte und Geschichten aufschreiben. "Ohne dies bleibt die Geschichte einseitig, unvollständig und unehrlich".
Demonstration gegen The Soviet Story vor der Botschaft Lettlands in Moskau. Photo: rumol.ru
Die Rede Kalnietes bewegte den deutschen Blätterwald noch wochenlang. Die Dokumentation The Soviet Story ist aber im Westen bislang kaum gelaufen, und so kamen die ersten Reaktionen auf den Streifen vor allem aus Rußland. Im Nachfolgestaat der Sowjetunion reagierte die Menge mit der üblichen reflexhaften Empörung: Wieder einmal wüteten Jugendliche vor der Botschaft Lettlands in Moskau. Diesmal verbrannten sie eine Šnore-Puppe. Ein Redakteur der britischen Zeitung The Economist betrachtet diese Aktion freilich als eine Auszeichnung, die einem Film-Oscar gleichkomme. In Deutschland dürften Sahra Wagenknecht und andere Blindgänger auf der Kommunistischen Plattform zetern. Ihren Unmut wird Europa leicht verkraften. Doch das historische Trauma der Osteuropäer stört die Geschäfte und nervt die Gasprom-Fraktion.
-Udo Bongartz; Mitarbeit: OJR-
Internetpräsenz zum Film von Edv?ns Šnore - http://www.sovietstory.com
Photos zur Demonstration gegen The Soviet Story in Moskau - http://rumol.ru/galleries/105.html
Video von der Demonstration gegen The Soviet Story in Moskau - http://tv.km.ru/index.asp?event=B8B08EE6-BFBC-4240-8052-21438AEE660E
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